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Schauspielerin, Regisseurin, Autorin. Adriana Altaras.

© Gunnar Geller

Literarisches Debüt: Du und deine Dibbuks

Erinnerungskultur? Von wegen! Die Berliner Künstlerin Adriana Altaras stellt ihr Buch „Titos Brille“ vor, welches eine Annäherung an die eigene Biografie ist.

Sie betritt die Lobby mit Theaterschwung. Sie probt in Hamburg gerade „Anatevka“, am St.-Pauli-Theater, in der Regie von Ulrich Waller, Ende März ist Premiere. Zum Gespräch im Hotel Reichshof am Hauptbahnhof ist sie mit dem Rad gekommen, durch den kalten Frühabendnebel, aber ihre Wangen sind nicht mal gerötet. „Gute Gene“, lacht sie, „fragen Sie Sarrazin.“ Schlagfertig ist die Frau, und sie strahlt. Sie hat dunkle, unzähmbare Locken, 1,55 Meter ist sie groß. In ihrem Pass steht 1,57 Meter, weil sie das Einwohnermeldeamt beschummelt hat, ein Zwei-Zentimeter-Triumph über die deutsche Genauigkeit. So beschreibt sie es in ihrem Buch „Titos Brille“, und noch ein anderes Bekenntnis kann man da gleich zu Beginn lesen: „Ich bin Jüdin. Jahrgang 1960. So, jetzt ist es heraus.“

Adriana Altaras begründete Anfang der achtziger Jahre in Berlin das Theater zum Westlichen Stadthirschen mit, damals die Avantgarde der Freien Szene. Sie ist seit langem als Regisseurin erfolgreich, vornehmlich im Opern- und Operettenfach, man kennt sie aus den Filmen von Rudolf Thome und Dani Levy, „Alles auf Zucker“ zum Beispiel. Und jetzt ist sie also auch Schriftstellerin. „Die Geschichte meiner strapaziösen Familie“ nennt sie ihr literarisches Debüt im Untertitel, es ist eine Annäherung an die eigene Biografie mit langem Vorlauf. Bereits vor 20 Jahren hat Altaras in dem Solo-Stück „Jonteff – Ein Festtag mit meinem Dibbuks“ im geschwinden Rollenwechsel die Marotten ihrer Verwandtschaft hochleben lassen, es war ihr „Outing als jüdische Schauspielerin“. Zuvor war die in Zagreb geborene Künstlerin auf italienische Lebensfreude und andere Südländer-Folklore abonniert. Sie rührt in ihrem Latte Macchiato und sagt, „ich habe ja noch ein anderes Leben, außer dem jüdischen“, aber in dem Buch habe sie sich nun eben auf diese Seite konzentriert. Da nimmt sie sich die Geister und die Gegenwart noch einmal vor.

Schon lange hat es keine Familiengeschichte mehr gegeben, die sich so vergnüglich und bewegend liest. Die einen derart warmherzigen, scharfsinnigen Ton hat, angefangen bei der kurzen Kindheit in Titos Jugoslawien, über Kapitel, die „Der Rabbi in der Alditüte“ oder „Der kroatische Saftladen“ heißen. Die selbst da nicht in Gemütsfinsternis fällt, wo die Vergangenheit Schatten wirft.

Altaras’ Eltern kämpften im Zweiten Weltkrieg als Partisanen gegen die Faschisten, die Mutter wurde ins Konzentrationslager auf der Insel Rab deportiert. Später verloren sie ihre Heimat ein zweites Mal, 1964, als dem Vater in der kommunistischen Partei der Schauprozess drohte. So kamen sie, über Umwege, nach Deutschland. Die Eltern haben diese Lebensbrüche nicht bewältigt, aber der Tochter wollten sie vermitteln, dass sie nicht bedrückt seien. Sie wollten die junge Adriana nicht belasten. „Wir haben dir doch gar nichts erzählt, was beschäftigst du dich mit dem Holocaust?“, so was hörte sie zu Hause. Hätte sie sich gewünscht, dass mehr über früher gesprochen worden wäre? „Nein, ich hätte mir gewünscht, dass wir nach Amerika gegangen wären. Deutschland fand ich eine echt heftige Wahl.“ Sie lacht.

Jakob und Thea Altaras brachten es in Gießen zu Ansehen. Er als Oberarzt am Uniklinikum und Vorsitzender der jüdischen Gemeinde, sie als Architektin, die unermüdlich dem vergessenen hessischen Landjudentum nachforschte. Aber selbst über die Nächsten erfährt man nie alles, schon gar nicht zu Lebzeiten, das wurde Adriana Altaras spätestens klar, als sie mit 44 Vollwaise wurde, „deutsche Begriffe sind sehr schön, oder?“, strahlt sie. Da bekam das Heldenbild des Vaters Risse, und das nicht nur, weil er vielleicht doch nicht die Brille von Genosse Tito im Gefecht repariert hatte, sondern weil seine drei Geliebten aufmarschierten. Als eine Kritik des Buches in der „Gießener Allgemeinen“ erschien, verursachte diese Pikanterie einigen Wirbel, aber Altaras zuckt nur mit den Schultern: „Entweder man schreibt die Dinge so auf, wie sie sind, oder man lässt es.“ Sie sagt, eine Zeit lang sei sie wütend auf den Vater gewesen. „Aber noch viel wütender war ich über den Müll.“ Den hinterließ ihr die Mutter nach dem Tod. Quittungen aus 34 Jahren. Aktenmeter voll mit kafkaesker bürokratischer Korrespondenz, ein zähes Ringen um die deutsche Staatsbürgerschaft, vergebliche Restitutionsforderungen an die kroatische Regierung. Und die Frage: „Was für ein Mensch war sie wirklich?“ Altaras zitiert in „Titos Brille“ ihre mondäne, in Italien lebende Tante Jele, die glaubt: „Wer wegwirft, ist ein Faschist.“ Sie sagt auch: „Die Vergangenheit ist jetzt.“ Beides würde Altaras nicht ohne Weiteres unterschreiben.

Aber geht es ihr mit diesem Buch, in dem die Eltern als Dibbuks sprechen, als mal nervende, mal tröstliche Quälgeister, nicht auch darum, dass eine Erinnerung lebendig gehalten werden muss? Sie lächelt, überlegt. „Wenn ich jetzt jüdisch antworte, sage ich: ja klar, sonst sind alle tot.“ Man muss an die Passage denken, in der sie schildert, wie sie für Steven Spielbergs Shoah-Foundation Holocaust-Überlebende interviewte. Einen Mann zum Beispiel, den sie in der Reichspogromnacht aus der S-Bahn holten und dessen größte Sorge es war, man könnte ihn für einen Schwarzfahrer halten, er hatte doch einen Fahrschein. Dann antwortet Altaras auch nichtjüdisch. Dass sie sich, wenn sie in der DDR geboren worden wäre, über die vielen simplen, oberflächlichen DDR-Filme ärgern und verlangen würde, dass man die Geschichte anders erzählt. „Das Leben ist komplizierter, witziger und abstruser – so, finde ich, muss Erinnerung sein.“

Also das Gegenteil dessen, was man in Deutschland Erinnerungskultur nennt. Wenn nur das Wort fällt, ruft Altaras durchs Hotel: „Da gebe ich mir gleich die Kugel!“ Sie hat mal am Gorki-Theater einen Abend inszeniert, der „Trauer to go“ hieß und die Debatten-Posse rund um das Holocaust-Mahnmal ad absurdum führte. Bei der deutschen Kritik kam sie damit nicht gut an. Aber was soll’s, an Missverständnisse ist sie gewöhnt. Sie hat nach dem Schauspielstudium an der Berliner HdK zu hören bekommen, sie sei zu ausländisch fürs deutsche Theater. Und im Fernsehen war sie jahrelang die Putzfrau vom Dienst, „ich habe in den erlesensten Kreisen geputzt, neben Manfred Krug, Bruno Ganz“, sagt sie heute lakonisch, in den Credits wurde sie meist nur als „Das Opfer“ geführt. Sie war nicht verzweifelt damals, „dazu fehlt mir der Schauspielernarzissmus“, aber wechselt in der Folge zur Regie, raus aus der Namenlosigkeit, „lieber besetzen als besetzt werden – siehe Polen“.

Und noch eine erhellende Begebenheit aus dem Kulturbetrieb erzählt Altaras in „Titos Brille“: Wie sie aus dem Film „Hilde“ herausgeschnitten wurde. Sie und ein Filmpartner waren als Holocaust-Überlebende besetzt, eine kurze Szene nur. Der Regisseur rief an und druckste herum, schon okay, dachte Altaras, war wohl schlecht gespielt. Aber nein, im Gegenteil. Sie waren zu authentisch. „Ihr habt irgendwie die Stimmung des Films verdorben“, hieß es.

Adriana Altaras hat einen westfälischen Ehemann, der Komponist ist, und zwei Söhne, der ältere spielte den jungen Michael Degen in dem Film „Nicht alle waren Mörder“. Sie hat ihm eine rauschende Bar Mizwa ausgerichtet, die ein wundervolles Kapitel in „Titos Brille“ abgibt. Die jüdische Gemeinde, sagt sie, habe ja etwas von Karneval, jede Menge Schaupracht, tolle Kostüme, immer was zu tratschen. Aber die Religion, sosehr sie als ehemalige Waldorfschülerin auch Rituale liebe, sei dann doch nicht mehr als eine „Identitätskrücke“. Auch da also – keine Heimat? „Oho“, ruft sie, „die Lieblingsfrage! Drehen wir den Spieß doch mal um: Haben Sie eine Heimat?“ Ihre Augen funkeln belustigt. „Sehen Sie. Da stockt Ihnen auch kurz der Atem.“

Adriana Altaras: Titos Brille. Die Geschichte meiner strapaziösen Familie. Kiepenheuer & Witsch, 272 Seiten, 18,95 €

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