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Literatur: Der Roman, ein Allesfresser

Ohnmachtserfahrung und Sehnsucht nach Polemik: Die „Hamburger Begegnung“ deutscher Kritiker und Schriftsteller

Von Gregor Dotzauer

Nach heutigen Begriffen war es schon fast ein Flashmob, der vergangene Woche zwei Tage lang in Gestalt von 30 deutschen, österreichischen und schweizerischen Schriftstellern und Kritikern durch das Hamburger Literaturhaus fegte: mehrheitlich eloquent, kaum je konsequent – und als Auflauf diagnostischer Geister letztlich so undurchdringlich kollektiv verschworen wie atomistisch. Nach unzweifelhaft gestrigen Begriffen mit anhaltendem Retrochic war es eher ein literarischer Salon der mittleren Generation zum Stand der Dinge. Unter Anleitung von Rainer Moritz, Meike Feßmann und Sibylle Lewitscharoff schien er in VierMinuten-Vorträgen und fröhlichem Schlagabtausch darauf zu hoffen, aus den unterschiedlichen Hirnströmen und Herzfrequenzen etwas ablesen zu können, das die Ausgangsfrage „Wer erzählt wie – eins nach dem anderen oder alles zugleich?“ mit einleuchtender Zeitgenossenschaft beantwortet.

Jenseits des unvermeidlichen sophistischen Einwands, ob es denn überhaupt allein ums Erzählen und um die Form des Romans gehen könne, wo doch das Gedicht, wie der Lyriker Nico Bleutge erklärte, für Simultanes und Polyphones, wie es uns umgibt, viel geeigneter sei, gehört derlei natürlich zu den vermessenen Erwartungen. Wenn man aber studieren will, wie Vokabulare und Metaphernwelten darum kämpfen, das, was ist, nicht einfach als gegeben hinzunehmen, sondern auch als Ergebnis dessen, wie darüber gesprochen wird, sind solche Veranstaltungen immer aufschlussreich.

Schließlich kann man stets behaupten, dass nichts unter unserer unmerklich erkaltenden Sonne das Kriterium des wirklich Neuen erfüllt. Alles ist irgendwo schon einmal vorgedacht und präfiguriert, was dazu verleitet, alles am vermeintlich entscheidenden Bezugspunkt eines ersten Mals zu messen. Verfallsklagen, gepaart mit einem Mangel an Neugier, speisen sich aus diesem Muster. Produktiver als in den diachronen Begriffen von Fortschritt und Niedergang zu denken, sei es deshalb, wie Lothar Müller empfahl, eine synchrone Betrachtungsweise zu entwickeln, die die Aggregatzustände des Analogen und Digitalen einander so gegenüber stellt, wie der Ethnologe Claude Lévi-Strauss dies für das Rohe und das Gekochte getan hat.

Auch in Hamburg fanden in gewisser Weise nur die alten ästhetischen Auseinandersetzungen statt: zwischen Abbildung und Einbildung, Totalität und Fragmentierung, Stoff und Stil. Doch nicht allein wegen der biologischen Notwendigkeit, die das Erzählen für den Menschen darstellt, muss jede Generation sie neu führen. Ihre Wiederholung ist die Probe auf ihre Tauglichkeit. Da sind es nur scheinbare Widersprüche, wenn Marion Poschmann für die unverwüstliche Kategorie der Schönheit plädiert oder Sibylle Lewitscharoff für ein „allrundes“ Menschenbild, das, aufgespannt zwischen Schuld, Gnade und Freiheit, auch einer „ekligen Figur“ ein „edles Grabtuch weben“ könne, das diese zur Erlösung befähige. Oder wenn Ulrich Peltzer dagegen der fiktionalen Aneignung des Realen misstraut, weil es eine „Prozesshaftigkeit“ gewonnen habe, „die sich in keinen narrativen Zusammenhang mehr bringen lässt“. Der Roman als Omnivor zwischen Theologie und Boulevard, Flaubertscher Verdichtung und Balzacscher Verbreiterung, schluckt einfach alles.

Und doch: „Was meint man heute anders, wenn man Autor, Leser und Werk sagt“, fragte Meike Feßmann, wohl wissend, dass die althergebrachten Begriffe sich nicht ganz eliminieren lassen, auch wenn der Autor seine uneingeschränkte Herrschaft über die Triebkräfte des „Konfusionsinstruments Sprache“ (Wilhelm Genazino) aufgeben musste, der Leser zum zerstreuten Mediennutzer mutiert und die Abgeschlossenheit das Werks fragwürdiger ist denn je. Die Leitmetaphern unseres Kulturverständnisses, so Feßmann, verschieben sich ständig. Sie habe den Eindruck, dass sie sich von der Zeit über den Raum gerade wieder zu einem Begriff von Zeit verlagerten, wie ihn der Yale-Gelehrte David Gelernter mit „Lifestreams“ in den Computerwolken vor Augen hat.

Insofern wird auch unser Verständnis von den mentalen Innenräumen, die Literatur besetzt, von den Außenräumen ständig neu definiert, bis zu dem Punkt, wo sie im Netz ineinander übergehen und eine unverfolgte, nicht als Datenspur festgehaltene Lektüre nur im Schutzraum des analogen Buchs möglich bleibt – sofern Leser darauf Wert legen. Auf der Seite des Schreibens werden bekanntlich auch Seelenregungen, die früher ausschließlich dem Tagebuch anvertraut wurden, im Blog öffentlich gemacht.

Es sind auch solche subtilen Rezeptions- und Produktionsveränderungen, die über das unmittelbar Stoffliche hinaus den Wert zeitgenössischer Literatur bestimmen. „Warum“, fragte Richard Kämmerlings, „soll sich ein Leser Neuerscheinungen zuwenden, wenn sich mit ihnen nicht automatisch ein Versprechen auf Gegenwart verbindet?“ Ist der Mangel daran der Grund für den nicht nur Hubert Winkels bewussten, „realen Bedeutungsverlust der Literatur“, die ohne Verankerung im bildungsbürgerlichen Kanon nun „aus sich selbst heraus leuchten muss“? Oder genügt sie viel zu sehr sich selbst, indem sie wie Hans Pleschinski sagte, ,,ein Bollwerk zu bilden versucht“, bei dem „die Bücher wie eine Wagenburg zusammenrücken gegen die Angriffe aus dem Internet“?

Die simplere Erklärung liegt darin, dass stoffliche Aktualität und erzählerische Komplexität in Formaten wie der von Ulrich Peltzer und Thomas Hettche bewunderten HBO-Fernsehserie „The Wire“ aus dem schwarzen Drogendschungel in Baltimore, Maryland, epische Möglichkeiten gefunden haben, an die sich der gängige maulfaule „Ernüchterungsstil“ (Iris Radisch) eines Großteils der deutschen Prosa gar nicht mehr heranwagt. Als „Ausdruck eines Epochengefühls“ bescheidet er sich mit einer umfassenden „Ohnmachtserfahrung“ – und rührt nicht an die Überlagerungen von Fiktivem und Dokumentarischem, die im Reality TV bis zu einer bewussten Verwirrung der Ebenen geführt haben.

Kann man die Literatur als Kritiker aus dieser falschen Selbstgenügsamkeit vertreiben? Die Sehnsucht nach Polemik, die sowohl Roman Bucheli als auch Sibylle Lewitscharoff bekundeten, spiegelt auch ein Ungenügen an der Folgenlosigkeit eines Literaturdiskurses, den nur noch eine Minderheit als welterschließend empfindet. Seine vordergründige Reizarmut dürfte dabei nur ein Aspekt sein. Wo steht der Gegner, den es, da gab sich Lewitscharoff gar nicht verlegen, zu vernichten gilt? Und was unterscheidet den Kritiker mit Lizenz zum Töten vom mordlustigen Mob im Netz, über dessen Aggressionspotenzial sich Thomas Hettche nach einem Artikel in der „FAZ“ so erschüttert zeigte? „Die Teufelei unserer Zeit ist die Vagheit“, dekretierte Lewitscharoff. Aber ist der Gegenbegriff dazu nicht argumentierende Genauigkeit? Wie gut, dass der Literaturdiskurs sich anders als der Popdiskurs nicht als selbstevident versteht. Also: Macht der Unverbindlichkeit den Prozess – und dann hängt sie.

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