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Literatur: Raum für Irrfahrten

Grenze, Passage, Bollwerk: Ohne den Flüchtling ist Europa heute nicht zu haben. Das Berliner Poesiefestival eröffnet mit einer Tagung über das Mittelmeer.

Die europäische Literatur setzt ein mit einem Paukenschlag. Nicht nur, dass die „Odyssee“ ein erzählerisch höchst raffiniertes Gebilde ist. Das zweite homerische Epos schlägt zudem einen Ton an, in dem sich Europa noch heute wiedererkennt. Es jagt seinen Protagonisten übers Meer, lässt ihn Schiffbrüche erleiden und mittellos an fremden Küsten stranden, auf gastliche Einwohner hoffend. Es ist ein Epos der Mobilität. Der Raum der Irrfahrten ist das Mittelmeer, von dem der Historiker George Duby sagt, es sei „die innerste Quelle der Kultur, aus der unsere Zivilisation sich speist“.

Es ist eine aktuelle, literarisch äußerst ergiebige und vielschichtige Angelegenheit, die sich das diesjährige Poesiefestival zum Thema macht: das Mittelmeer. Wer Mittelmeer sagt, muss auch Europa sagen. Und Migration. Großkonzepte, die in der nächsten Woche gebündelt werden sollen im Medium des Gedichts.

Im Spanischen heißen sie Pateras, die viel zu kleinen Boote, mit denen tausende Flüchtlinge aus Marokko über die Meerenge von Gibraltar nach Andalusien kommen. Andere werden an der italienischen Insel Lampedusa angespült und in Abschiebelagern zusammengepfercht. Europa hat längst dicht gemacht. Das Mittelmeer soll oft Bollwerk sein, Grenze zwischen Bibel und Koran, Okzident und Orient und nicht zuletzt zwischen Wohlstand und Armut. Das ist natürlich illusorisch, das Mittelmeer war immer schon Grenze und Passage zugleich. Langsam sollte man sich daran gewöhnen, dass dieses Meer andere Küsten hat als nur die Côte d’Azur, die Costa Brava und die Riviera dei Fiori.

Folgerichtig stand das alte Europa keineswegs im Vordergrund, als es beim Eröffnungscolloquium des Festivals um das „Mittelmeer und Europa – die andere Geschichte der Literatur“ ging. Die Erfahrung des Exils, so weit herrschte Einigkeit, grundiert das Dasein an allen mittelmeerischen Ufern. Spanien, so der Berliner Romanist Dieter Ingenschay, das im Jahr der Amerika-Entdeckung die Juden von der Iberischen Halbinsel vertrieb, ist in den vergangenen 15 Jahren selbst zum Einwanderungsland geworden. Das Osmanische Reich nahm viele dieser Flüchtlinge auf, bevor die Türkei Armenier, Griechen und Kurden zu Exilanten machte. Griechen wurden Gastarbeiter in der Bundesrepublik. Der Maghreb kennt sieben Wellen der Ein- und Auswanderung. Israel, erklärte Anat Feinberg, Spezialistin für hebräische und jüdische Literatur in Heidelberg, hält für den Einwanderer eine spezielle Form der Fremdheit bereit. Schließlich kommt er in ein Land, in dem er Heimat vermutet, erfährt sich aber als „angekommen und zerrissen“. Im Arabischen, erfuhr man von dem Marburger Arabisten Stephan Milich, heißt Exil: die Existenz verneinen.

Und dennoch: „Wer bin ich ohne Exil?“ heißt ein Gedicht des Palästinensers Mahmud Darwisch. Das erzwungene Weggehen, die Existenz an einem anderen als dem angestammten Ort, ist eben immer auch ästhetische Produktivkraft gewesen. Man muss nicht befürchten, die mögliche biografische Katastrophe zugunsten einer „Idealisierung des Exils“ zu vertuschen (Anat Feinberg), um ein „PostExil“ zu erhoffen, in dem die Fremdheit als Schreckenserfahrung überwunden wäre (Stephan Milich). Hier stehen Identitätskonzepte zur Debatte: am einen Ende des Spektrums das fixe, abgeschlossene Ich, das Einheit auf Reinheit reimt, mit Ausgrenzung einhergehen kann – und vielleicht eine Fiktion ist. Am anderen Ende das sich in neuen Kontexten immer neu entwerfende, ungebundene Ich – das vielleicht nicht weniger fiktional ist. Letztlich geht um eine positive Neudefinition des Exils – schon weil Europa ohne die Figur des Flüchtlings im 21. Jahrhundert nicht zu haben sein wird. Deswegen lautet die Frage längst nicht mehr nur, wie Flüchtlinge aus anderen Teilen der Welt in der Fremde zurechtkommen. Europa, Schauplatz eines modernen Mobilitätsepos, muss sich fragen, wie europäische Kultur sich künftig denken will.

Dass das Mittelmeer dabei eine zentrale Rolle spielt, liegt auf der Hand. Zunächst rückte es aus dem Zentrum der Welt, als Kolumbus im 15. Jahrhundert nach Amerika segelte. Dann wurde es zum Transitraum, als 1869 der Suezkanal öffnete. Heute ist er in Gestalt von Nicolas Sarkozys Mittelmeer-Union wieder ein heiß debattiertes Thema. Auch dieser Kulturraum, als den der Historiker Fernand Braudel das „Mare nostrum“ in seinem bis heute folgenreichen Werk entwarf, muss sich stets aufs Neue bestimmen: als Raum der Integration oder Ausgrenzung.

Literatur, so scheint es, weiß das schon länger als die Politik. Und da es eine politische Verfassung Europas vorerst nicht gibt, soll es zumindest eine poetische geben. Eine Verfassung in Versen also wurde von 50 Dichtern erdacht und zum Festivalauftakt erstmals präsentiert (Tsp. vom 4. 6.). Dass sich der Flüchtling in diesem Verfassungswerk als zentrale Figur herausschält, kann kaum verwundern. An der Wahrnehmung des Exils als einem permanenten Zustand führt kein Weg vorbei – weder für Migranten noch für vermeintlich Sesshafte. Ithaka, so die Übersetzerin und Maghreb-Spezialistin Regina Keil-Sagawe, gibt es nicht mehr.

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