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50 Jahre Blechtrommel: Ich bin’s, immer noch ich

Oskar Matzerath macht weiter Lärm: „Die Blechtrommel“ von Günter Grass wird 50 Jahre alt. Mit diesem Buch kehrte die deutsche Nachkriegsliteratur auf die Weltbühne zurück. Aber was entdeckt ein 16-Jähriger heute in diesem Schelmenroman?

Von Gregor Dotzauer

Warum sollte man ihm nicht an der nächsten Ecke begegnen. So, wie jede bedeutende literarische Figur ein Lebensrecht auf Erden erwirbt, gehört auch Oskar Matzerath zu den Fleisch und Blut gewordenen Gestalten. Als Angehöriger des Jahrgangs 1924, nur drei Jahre älter als sein Schöpfer Günter Grass, könnte ihm sein letztes Kapitel noch bevorstehen. Und hat er sich seit der heute vor fünfzig Jahren erschienenen „Blechtrommel“ nicht hier und dort blicken lassen? In der „Rättin“ (1986) zitiert ihn Grass noch einmal herbei: nicht mehr als mordverdächtiger „Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt“, der sich dreißigjährig Rechenschaft über sein abenteuerliches Leben und die Zeitläufte ablegt, sondern doppelt so alt und neureich, ein in Maßanzüge und Lavendelduft gehüllter Filmmogul, der mit seiner Firma „Post-Futurum“ die apokalyptische Zukunft der Welt bereits auf Video festhalten kann.

Wer weiß, in welcher Verfassung man ihn heute antreffen würde: als geistig zerrütteten Hartz-IV-Pleitier, als scharfzüngigen dirty old man oder hochbezahlten Talkshow-Dauergast, der zum tausendsten Mal erzählt, dass er endlich ohne Flunkern erzählen werde, wie es einst war, als unter den Röcken seiner Großmutter Anna Bronski auf dem kaschubischen Kartoffelacker Unerhörtes geschah, ohne das er nie dem nationalsozialistischen Wahnsinn ausgesetzt gewesen wäre und seinen Verfolgern hätte entkommen müssen und sich als Schwarzmarkthändler und Aktmodell verdingen, bis er in seinem Pfleger Bruno ein zuhörwilliges Gegenüber für seine Geschichten fand. Vielleicht würde man Oskar auch gar nicht sofort erkennen, weil das Gesicht von David Bennent, wie es Volker Schlöndorffs „Blechtrommel“-Verfilmung prägt, inzwischen jede literarische Imagination überlagert. Aber man würde, klein und verwachsen, wie er ist, zumindest hinsehen, mitleidig oder sogar ein wenig ängstlich, was diesem Wicht alles zuzutrauen ist.

Mit Oskar Matzerath kehrte 1959 die deutsche Nachkriegsliteratur auf die Weltbühne zurück. Sie tat es im Verein mit Heinrich Bölls „Billard um halbzehn“ und Uwe Johnsons „Mutmaßungen über Jakob“, den beiden anderen Büchern, die von der Frankfurter Buchmesse aus international die Runde machten. Aber es lag im Wesen der „Blechtrommel“, dass kein Roman schriller, närrischer, grotesker, fantastischer und mit seinen deutsch-polnischen Verwicklungen historisch enzyklopädischer um Aufmerksamkeit buhlte – und entsprechend Resonanz fand.

„Die Blechtrommel“, formulierte Hans Magnus Enzensberger im Süddeutschen Rundfunk, zeige „dem literarischen Schrebergarten, mögen seine Rabatten sich biedermeierlich oder avanciert-tachistisch geben, was eine Harke ist“. Grass charakterisierte er als „Hai im Sardinentümpel“, an dessen döblingleichem Brocken „Rezensenten und Philologen mindestens ein Jahrzehnt zu würgen haben, bis es reif zur Kanonisation oder zur Aufbahrung im Schauhaus der Literaturgeschichte ist.“ Es spricht einiges dafür, dass auch der zweite Teil dieser Prophezeiung eingetroffen ist, was wohl nicht nur an der festaktlichen Einbalsamierung durch den Altmeister selbst, Altbundeskanzler Gerhard Schröder, Altschauspieler Mario Adorf und Jungschriftstellerin Julia Franck zur Eröffnung einer Jubiläumsausstellung im Lübecker Grass-Haus und einer Jubiläumsausgabe im Steidl Verlag liegt, sondern am schlichten Lauf der Dinge, über den man sich nur mit dem Grass-Gedicht „Wegzehrung“ hinwegtrösten könnte: „Mit einem Sack Nüsse / will ich begraben sein / und mit neuesten Zähnen. / Wenn es dann kracht, / wo ich liege, / kann vermutet werden: / Er ist das, / immer noch er.“

Die Schrebergärtner ließen jedenfalls nicht lange auf sich warten. Katholisch pikiert und nationalkonservativ empört fielen sie über Grass her, woran sich zu erinnern lohnt, weil ihm daraus tatsächlich Schaden entstand: 1959 verweigerte ihm der Bremer Senat den von einer unabhängigen Jury beschlossenen Bremer Literaturpreis. Wie lang ist’s her: Fünfzig Jahre sind dafür kein Maß.

Der Jubel aber war von Anfang an lauter. Oskar wurde nicht nur als anarchische Figur und idealer Plot erkannt („Junge, dreijährig, stellt Wachstum ein“ fasste ihn Grass gegenüber Marcel Reich-Ranicki zusammen), auch die episodenhaft zersplitterte Erzählperspektive wurde gewürdigt. „Das hellsichtige Kind, der begnadete Zwerg, der sich angesichts des herrschenden Weltzustands weigert, den besiegelnden Schritt ins Erwachsenendasein zu tun – welch ein Vorwurf, welch eine Anklage gegen die Epoche“, schrieb in der „FAZ“ damals Günter Blöcker, um dann einen Verriss zu schreiben, dessen Gründlichkeit sogar Grass Respekt zollen musste: „Die Öffentlichkeit wird planmäßig eingeschüchtert, indem man ihr einen neuen Rabelais oder Grimmelshausen verheißt. Ich würde sagen: Christian Reuter genügt. Schelmuffsky 1959.“ Es blieb die einzige ernst zu nehmende Attacke, wenn man von derjenigen Reich-Ranickis absieht, der aber drei Jahre später widerrief.

Was entdeckt ein 16-Jähriger heute in diesem Schelmenroman? Sofern er ein Gespür dafür hat, was Grass hier der deutschen Sprache abzwingt und -zwinkert, sicher noch immer etwas von der Kraft, mit der dieser Wortwucherer seines Stoffs Herr zu werden versuchte – mehr als in den beiden folgenden Teilen der sogenannten „Danziger Trilogie“, der Novelle „Katz und Maus“ und dem Roman „Hundejahre“. Was heute aus Grassens sich selbst mit Bedacht in die Parade fahrenden „unzuverlässigem Erzähler“ geworden ist, sieht man an seinen jüngsten, alles Autobiografische rituell in einen Fiktionsnebel projizierenden Büchern: ein unzuverlässiger Autor.

Georg Klein vermutete allerdings schon zur Jahrtausendwende, dass die „Blechtrommel“ zumindest ihre Kraft zur historischen Vergegenwärtigung verloren habe. „Heute schieben die deutschen Geschichtslehrer ,Schindlers Liste’ oder ,Der Soldat Ryan’ in den schuleigenen Videorecorder, wenn es darum geht, effektvoll und glaubwürdig vom Geschehenen zu erzählen. Nicht nur unsere Gefühlskultur, auch unsere Historie wird inzwischen in Hollywood gemacht.“ Es ist nicht so, dass ein solches Buch von einem anderen Autor für eine andere Zeit nicht noch einmal geschrieben werden könnte. Es ist wohl nur so, dass es niemals wieder ein solches Echo erzeugen würde. Auch dessen aus der Ferne noch immer anbrandende Töne werden zum fünfzigsten Geburtstag der „Blechtrommel“ gefeiert.

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