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Eine neue Sicht auf die Person Adolf Hitler: Amerika, das Vor- und Feindbild

Brendan Simms verhebt sich an einem Perspektivwechsel.

Am Anfang war der Erste Weltkrieg. Adolf Hitler nahm fast die gesamten vier Jahre an ihm teil. Gegen Ende des Krieges griff sein Regiment 16 US-Soldaten auf. Hitler persönlich übergab zwei von ihnen in Kriegsgefangenschaft. Dieses Ereignis, so Brendan Simms, Professor für Geschichte der Internationalen Beziehungen in Cambridge, sei ein entscheidender Moment in Hitlers Leben gewesen – und damit in der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Hitler sei fortan überzeugt gewesen, dass es sich bei diesen „großgewachsenen Menschen“ um Nachkommen deutscher Auswanderer handelte, die die Heimat aufgrund fehlenden Lebensraums verlassen hätten und nun als Feinde zurückkehrten.

Deutsche Auswanderer, amerikanische Soldaten

Mit dieser Anekdote aus dem Juli 1918 eröffnet Simms sein monumentales Buch über Hitler, an dem er mehr als zehn Jahre gearbeitet hat. Der Titel der deutschen Ausgabe ist missverständlich. Denn Simms hat weniger eine „globale Biographie“ vorgelegt, als vielmehr einen rund 1000 Seiten starken Essay über eine der meistrezipierten Figuren des 20. Jahrhunderts, die in den vergangenen Jahrzehnten bereits aus allen nur denkbaren Blickwinkeln wissenschaftlich ausgeleuchtet wurde – von den frühen Wiener Jahren (Brigitte Hamann) über Hitlers psychiatrische Disposition (Fritz Redlich) bis hin zu seinem Drogenkonsum (Norman Ohler). Von den großen Hitler-Biographien aus den Federn von Alan Bullock, Joachim Fest, Ian Kershaw, Peter Longerich und jüngst Volker Ullrich ganz zu schweigen.

Alle diese Arbeiten weisen in Simms' Augen jedoch ein grundlegendes Defizit auf; sie blenden die beiden konstituierenden Elemente für Hitlers politisches Handeln aus: die angelsächsische Dimension seines Denkens und seine Ablehnung des Kapitalismus. Weswegen mit der Schließung dieser Lücke, so Simms' selbstbewusstes Fazit, nicht nur eine Neubewertung der Person Hitler einhergehe, sondern auch des „Dritten Reiches“.

Prägung durch die Erfahrung der US-Militärmacht

Vor allem die amerikanische Bedrohung, die Hitler 1917/18 am eigenen Leib erfuhr, habe - so Simms' Lesart - sein Weltbild dauerhaft geprägt. Und zwar sehr viel stärker als die Furcht vor dem Bolschewismus, den er zum einen als kontrollierbar erachtete – Deutschland hatte Russland bereits im Ersten Weltkrieg niedergerungen –, und zum anderen lediglich als Büttel des von Juden kontrollierten US-Kapitalismus wahrnahm, um eine neuerliche deutsche Expansion zu unterbinden. Kurz gesagt, der wahre Feind saß im Westen, nicht im Osten.

Hitlers Trauma war demnach die Niederlage 1918. In ihr habe sich das deutsche Volk dem amerikanischen als nicht ebenbürtig erwiesen. Die Vernichtung der Juden habe das Ziel verfolgt, Deutschland „rassisch“ auf das Niveau der USA zu heben, in deren Höherwertigkeit Hitler das Resultat deutscher Einwanderung zu erkennen glaubte.

Nicht Sowjetrussland, sondern US-Amerika als Hauptfeind

Folglich musste ein zweiter Fehler aus der Zeit vor 1914 behoben werden: die Sicherstellung des demographischen Faktors. Da Hitler die Auswanderung dem Mangel an Lebensraum zurechnete, eine Folge der fehlenden kolonialen Ambition des Deutschen Reiches, bedurfte es für den Wettbewerb mit den USA des Lebensraums im Osten. Anders formuliert, sowohl der Krieg gegen die Sowjetunion als auch der Holocaust dienten der Vorbereitung des wahren von Hitler antizipierten globalen Antagonismus – dem zwischen dem Deutschen Reich und den Vereinigten Staaten.

Simms ist einer der kreativsten und produktivsten Historiker unserer Zeit, seine thematische Bandbreite ist beeindruckend. Und er verfügt über intellektuellen Mut, vermeintliche Gewissheiten pointiert gegen den Strich zu bürsten – etwa wenn er, wie jüngst geschehen, die Bedeutung des Brexit vor dem Hintergrund der gut 1000-jährigen britisch-europäischen Verflechtungsgeschichte historisch einordnet.

Nicht so neu, wie behauptet

Mit seinem Hitler-Buch hat er sich jetzt allerdings verhoben. So ist die Betonung sozialistischer Facetten in der NS-Ideologie alles andere als neu. Friedrich August von Hayek hatte bereits 1944 in „Der Weg zur Knechtschaft“ darauf hingewiesen – ein Buch, das in Simms' Bibliographie fehlt. Auch das anti-kapitalistische und anti-amerikanische Element bei Hitler wurde schon in früheren Werken thematisiert.

Simms begründet seine Lesart unter anderem damit, dass Hitler in seinen Reden und Schriften sehr viel häufiger vor den Gefahren des Kapitalismus und der USA gewarnt habe, als vor jenen des Sowjetkommunismus. Das ist in der Summe fraglich, wenngleich sich entsprechende Passagen bei einem, der zeitweise zehn Reden und mehr an einem Abend gehalten hat, zweifellos wiederfinden. In Hitlers ideologischem Hauptwerk „Mein Kampf“ lassen sich Simms' Thesen jedoch nicht verifizieren. Dort wird der Feind eindeutig in Moskau verortet, nicht in Washington. Und die Opfer der Verhaftungswellen nach 1933 entstammten in erster Linie dem sozialistischen und kommunistischen Milieu, nicht der Industrie und Finanzwirtschaft.

Monokausal ist Geschichte nie

Das grundsätzliche Problem von Simms' „Hitler“ ist die Ambition. Indem Simms praktisch jedes Ereignis der NS-Geschichte auf Hitlers Hass auf die USA zurückführt, entwertet er auch jene Teile des Buches, die kluge Beobachtungen und Analysen enthalten. Ein schmaleres Format und ein klar definierter Fokus hätten dem Buch gutgetan. Wer eine Biographie Hitlers sucht, sollte auch weiterhin zum Standardwerk von Kershaw greifen.

Brendan Simms: Hitler. Eine globale Biographie. Aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2020. 1056 Seiten, 44 €.

Florian Keisinger

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