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AUFGESCHLAGEN Zugeschlagen: End, Zeit, Stimmung

Von Denis Scheck

Denis Scheck, Literaturredakteur im Deutschlandfunk, bespricht einmal monatlich die „Spiegel“-Bestsellerliste, abwechselnd Belletristik und Sachbuch – parallel zu seiner ARD-Sendung „Druckfrisch“ (heute 23 Uhr 30 mit den Gästen Andrea Maria Schenkel, Martin Mosebach, Jan Philipp Reemtsma).

10) Daniel Kehlmann: Die Vermessung der Welt (Rowohlt, 304 Seiten 19,90 € )

Warum stößt diese Doppelbiografie über den Weltreisenden Alexander von Humboldt und den Mathematiker Carl Friedrich Gauss auf so langanhaltendes Leserinteresse? Weil sie glänzend geschrieben ist? Sicherlich. Weil sie unter dem Zuckerguss ihrer Romanhandlung amüsant belehrt? Sicherlich auch. Weil sie zentrale Fragen unserer Zeit adressiert? Sicherlich nicht. Weil sie ein bisschen ein Angeberbuch für Bildungsbeflissene ist? Aber sicher.

9) Tess Gerritsen: Blutmale (Deutsch von Andreas Jäger, Limes , 414 Seiten, 19,95 €)

Bislang tummelte sich Tess Gerritsen mit einem Ermittlerinnenteam als Trittbrettfahrerin im forensischen Krimi. Für „Blutmale“, ihren sechsten Fall, hat die amerikanische Autorin eine esoterische Wende genommen: Gerritsen lässt einen jungen Mann morden, der sich für den Nachfahren eines von Engeln und Menschen gezeugten Monstergeschlechts hält: „Sie haben dem Bösen ins Auge geblickt“, schreibt Gerritsen auf Seite 127, „Sie haben es im Gesicht ihrer Mutter gesehen.“ Ich weiß nicht, was Sie im Gesicht Ihrer Mutter sehen. Meine Mutter jedenfalls hat mir beigebracht, statt solch aufgeblähten Schunds lieber gleich ein Professor-Zamorra-Heftchen zu lesen.

8) J. K. Rowling: Harry Potter und der Halbblutprinz (Deutsch von Klaus Fritz, Carlsen Verlag, 656 Seiten, 22,50 €)

Der sechste Harry Potter ist besser als der fünfte, aber nicht ganz so gut wie der vierte. Und weil damit alles Wichtige gesagt ist, bleibt endlich mal Zeit für nicht ganz so naheliegende Fragen. Zum Beispiel: Warum lesen Potter und seine Freunde eigentlich nie ein gutes Buch? Also kein Zaubererbuch, sondern ein belletristisches Werk aus der Welt von uns Muggeln, echte Literatur also, von Andrej Bitow, Peer Hultberg, Nuruddin Farrah oder sonst einem Schriftsteller, der gut ist und mehr Leser verdient? Wäre doch ein generöser Zug von Mrs. Rowling. Aber vielleicht ist das eine blöde Spielverderberfrage. Man fragt ja auch nicht mitten im „Hamlet“, wieso keiner der Akteure je aufs Klo geht.

7) Simon Beckett: Kalte Asche (Deutsch von Andrea von Heese, Wunderlich Verlag, 432 Seiten, 19,90 €)

Dieser handwerklich solide, aber grundalberne Krimi spielt auf einer Insel der Äußeren Hebriden. An den Rand des Menschenmöglichen und halbwegs Glaubwürdigen führt auch seine Handlung um Geschwisterinzest und verfehlte Elternliebe, deren Auflösung wohl selbst dem Autor ein klitzekleinwenig unplausibel schien – weshalb er drei Enden schrieb. Doch das Problem dieses Romans ist gar nicht, wie er ausgeht. Es ist das Davor.

6) Ian McEwan: Am Strand (Deutsch von Bernhard Robben, Diogenes Verlag, 208 Seiten, 18,90 €)

Wie erstickend noch in den sechziger Jahren der Würgegriff von Kirche und Konvention auf dem Leben in westlichen Ländern lag, wie zeitgebunden all unserer Vorstellungen von Moral und Geschlechterrollen sind, all das lässt sich aus Ian McEwans kleinem großen Roman über eine missglückte Hochzeitsnacht im England des Jahres 1962 erfahren. Ein Buch auch für Menschen, die wenig Erfahrung mit Literatur haben.

5) Henning Mankell: Die italienischen Schuhe (Deutsch von Verena Reichel, 368 Seiten, Zsolnay Verlag, 21,50 €)

Ich mag diesen Autor. Aber irgendwann im Verlauf dieses Buchs über einen Arzt, der seinen Beruf aufgibt, nachdem er einer Patientin den falschen Arm amputiert hat, worauf diese junge Frau ein Heim für misshandelte Mädchen eröffnet, worauf seine vom Krebs gezeichnete frühere Geliebte den Arzt im Ruhestand besucht, um ihm zu sagen, dass er eine uneheliche Tochter von ihr hat, was den Arzt veranlasst, die Patienten mit dem falsch amputieren Arm aufzusuchen, worauf seine Geliebte stirbt, er aber seine Tochter besser verstehen lernt, genauso wie die einarmige Mädchenbetreuerin, also irgendwann im Verlauf dieser zu einer tränenseligen Kitschorgie ausufernden Handlung, ist mir der Geduldsfaden gerissen. Ach ja, vergessen zu erwähnen habe ich, dass auch sein Hund stirbt. Und seine Katze.

4) Andrea Maria Schenkel: Tannöd (Nautilus, 128 Seiten, 12,90 €)

Schnörkel-, aber keineswegs kunstlos erzählt Andrea Maria Schenkel in ihrem Debüt von einem Mehrfachmord auf einem Aussiedlerhof.

3) Andrea Maria Schenkel: Kalteis (Nautilus, 150 Seiten, 12,90 €)

Schenkels zweites Buch über einen Frauenmörder im dumpfen München der Nazizeit ist ein kleines, grausames Meisterwerk. „Kalteis“ lotet die Möglichkeiten des dokumentarisch-präzisen Krimis weiter aus und nimmt durch Schenkels angenehm kühle Erzählweise für sich ein.

2) Tommy Jaud: Millionär (Scherz Verlag, 320 Seiten, 13,90 € )

Wurden Sie je von einem lärmenden Obermieter genervt, jenem weit verbreiteten Menschenschlag, der bevorzugt in den späten Abendstunden für die Weltmeisterschaft im Holzschuhtanz übt oder endlich die Umschulung zum freiberuflichen Steinmetz in Angriff nimmt – dann wird Ihnen der neue Roman von Tommy Jaud aus der Seele sprechen. Aber so wie sein Held, ein Kölner Arbeitsloser, ist dieser Roman eine Spur zu vulgär, laut und selbstverliebt, um als passable Unterhaltungsliteratur durchgehen zu können.

1) J. K. Rowling: Harry Potter and the Deathly Hallows (Bloomsbury, 607 Seiten, 28,90 €)

Weit spannender, als zu verraten, ob Harry, Ron und Hermine überleben, ist für mich die Frage, welche dunklen Mächte dafür verantwortlich sind, dass eine der reichsten, ergo unabhängigsten Frauen Englands statt der mutigen Umsetzung einer künstlerischen Vision bloß Serienkacke abliefert. Kleinmut? Feigheit? Der kommerzielle Druck? Oder hat am Ende eben doch das Talent nicht gereicht? Ich fühle mich als Leser jedenfalls so geprellt, als hätte sich Punkt Mitternacht die prächtige Kutsche in einen Kürbis zurückverwandelt hat. War Harry Potter letztlich nur Narrengold?

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