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Buch-Rezension: Zorn und Vorurteil

Der Kampf ums wahre Christentum: Elaine Pagels und Karen King stellen das Judas-Evangelium vor.

Die Renaissance des Religiösen belebt auch das Programm des C. H. Beck Verlags. Der aktuelle Spitzentitel im Sachbuch stammt von Elaine Pagels und Karen L. King: „Das Evangelium des Verräters – Judas und der Kampf um das wahre Christentum“. King lehrt Kirchengeschichte an der Harvard Divinity School; Pagels ist Professorin für Religionswissenschaft an der Princeton University, als Spezialistin für apokryphe frühchristliche Schriften bekannt geworden und hat mit „Das Geheimnis des fünften Evangeliums – Warum die Bibel nur die halbe Wahrheit sagt“ 2004 schon ein Buch über das Thomas-Evangelium vorgelegt.

Jetzt also Judas. Als 2006 die National Geographic Society in Washington D.C. kurz vor Ostern eine lange verschollene Schrift präsentierte, die man in den siebziger Jahren in einer mittelägyptischen Grabhöhle gefunden hatte, schaffte dieses Ereignis sogar den Sprung in die aktuellen Nachrichten. Es handelte sich um das „Evangelium des Judas“, eine koptische Übersetzung eines griechischsprachigen Originals aus dem 2. Jahrhundert. Nach seiner Entdeckung wurde der Fund auf eine abenteuerliche Odyssee durch Banksafes und die Depots von Antiquitätenhändlern geschickt, ehe sich 2001 Spezialisten seiner annahmen und in fünfjähriger Kleinarbeit den stark beschädigten Papyrus zu restaurieren und zu entziffern suchten. Herausgekommen ist ein Text mit vielen Lücken, der im vorliegenden Buch gerade zwölf Seiten umfasst.

Dass es ein Judas-Evangelium gab, war Historikern längst bekannt. Der Kirchenvater Irenäus von Lyon polemisierte um das Jahr 180 in einer Streitschrift gegen eine Gruppe von Christen, die sich auf Judas beriefen, da dieser als Einziger der Jünger die Wahrheit erkannt habe: „Sie legen ein Machwerk mit diesem Inhalt vor und nennen es das ,Evangelium des Judas’“. Irenäus aber hielt dieses Evangelium und andere vergleichbare Schriften für einen „Abgrund des Unsinns und der Lästerung gegen Christus“ und verfocht stattdessen die These, dass allein die vier Evangelien von Matthäus, Markus, Lukas und Johannes in den Schriftenkanon der Kirche aufgenommen werden dürften. Mit diesem Plädoyer hat er sich bekanntlich durchgesetzt.

Soll man diese Kanonbildung bedauern? Sind Texte ausgeschlossen worden, die dem Christentum ein anderes Gesicht gegeben hätten? Der Verdacht hat inzwischen die Popkultur erreicht, seit Dan Brown in seinem Bestseller „Sakrileg“ Elemente aus diesen apokryphen Evangelien mit Bruchstücken der Gralslegende und des Tempelrittermythos zu einem esoterischen Cocktail verrührt hat. Da ist es zu begrüßen, dass die entsprechenden Texte, solide kommentiert, zugänglich gemacht werden. Allerdings gibt es längst Editionen dieser Schriften, etwa die zweibändige Ausgabe von Klaus Berger und Christiane Nord im Insel Verlag, die demnächst im Verlag der Weltreligionen neu aufgelegt werden soll, ergänzt um das Judas-Evangelium.

Wer sich die Mühe macht, diese Schriften zu lesen, muss sich aber auf eine Enttäuschung gefasst machen – es sei denn, man hält alles, was irgendwie den Ruch des Häretischen hat, für irgendwie subversiv. Pagels und King schlagen genau diesen Ton an, obwohl er im Fall des Judas-Evangeliums noch weniger begründet ist als beim Thomas-Evangelium. Die Autorinnen geben zwar zu, dass sie irritiert gewesen seien wegen der „homophoben und antijüdischen Ansichten“, die der Verfasser des Judas-Evangeliums propagierte. Dennoch wollen sie den Text schmackhaft machen als Beleg für die turbulente Frühgeschichte des Christentums: „Wir sollten das Judas-Evangelium mit Blick auf das lesen, was es über die historische Situation der Christen mitteilt, die diesen Text geschrieben und gelesen haben: über ihren Zorn, ihre Vorurteile, ihre Ängste – und ihre Hoffnungen“.

Mit solchen Argumenten ließe sich freilich selbst eine Lektüre von „Mein Kampf“ begründen. Dass die Geschichte des Christentums eine Geschichte von dogmatischen Auseinandersetzungen und Abspaltungen ist, hat nun wirklich keinen Neuigkeitswert. Die entscheidende Frage wäre doch die, ob die nicht in den Kanon aufgenommenen Schriften tatsächlich etwas Lohnendes enthalten. Dann müsste man allerdings die postmoderne Wahrheitsskepsis hinter sich lassen, die besagt, so etwas wie Wahrheit gebe es gar nicht, nur eine Vielfalt von Deutungsperspektiven, in der das Judas-Evangelium gleichberechtigt neben den vier kanonischen Evangelien steht.

Doch obwohl Pagels’ und Kings Buch den Begriff „wahres Christentum“ im Titel führt, vermeidet es jede ernsthafte theologische Debatte. Es müsste sich dann nämlich der Frage stellen, ob sich der Kanon des Neuen Testaments deshalb durchgesetzt hat, weil die in ihm vertretene Theologie glaubwürdiger ist als die der verworfenen Schriften. Die Theologie des Judas-Evangeliums ist gnostisch. Darunter versteht man eine aus dem spätantiken Neuplatonismus hervorgegangene Lehre, der zufolge wir Menschen ursprünglich in einer Welt des reinen Geistes beheimatet sind. Der Sündenfall geschieht in dem Augenblick, in dem ein böser Schöpfergott die materielle Welt der Körper erschafft, in der der Geist seither eingekerkert ist. Daraus kann sich nur befreien, wer den Blick tief ins eigene Innere richtet, den göttlichen Funken in sich entdeckt, den Körper abtötet und wieder ins Reich des reinen Geistes aufsteigt. In dieser gnostischen Lesart wird Christus zu einem Mystagogen, der uns hilft, das Geheimnis dieser verborgenen Spiritualität in uns aufzuspüren.

So ist es auch im Judas-Evangelium. Judas ist hier der Lieblingsjünger Jesu, der als Einziger in die „Geheimnisse des Königreichs“ eingeweiht wird, während die zwölf Apostel als „falsche Priester der Verfehlung“ verurteilt werden. Indem Judas Jesus verrät und seinen Tod herbeiführt, erfüllt er den göttlichen Heilsplan, denn er befreit Christus von seinem sterblichen Körper, sodass er zurückkehren kann ins Königreich des reinen Geistes. Der „Skandal des Kreuzes“, von dem der Apostel Paulus spricht, hat in dieser Christologie so wenig Platz wie die Lehre von der Auferstehung des Fleisches.

Was aber, wenn – wie Philosophen von Adorno bis Žižek immer wieder behauptet haben – der materialistische Kern des Christentums gerade an diesen orthodoxen Lehren hängt? Dann wünschen wir Elaine Pagels und Karen L. King viel Spaß mit den „Geheimnissen des Königreichs“ und rufen ihnen mit Slavoj Žižek zu: Gnostizismus – nein danke!


Elaine Pagels, Karen L. King:
Das Evangelium des Verräters. Aus dem Englischen von Rita Seuß. Verlag C.H. Beck. München 2008. 205 Seiten, 19, 90 Euro

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