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Moderne Philosophie: Das Dunkle in mir

In "Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie zeigtChristoph Menket, wie mit der Ästhetik die moderne Philosophie beginnt.

Bei der nahezu inflationären Ver wendung der Wörter "Ästhetik" und "ästhetisch" heutzutage vergisst man leicht, dass diese Begriffe gar nicht so alt sind. Geprägt hat sie der deutsche Philosoph Alexander Gottlieb Baumgarten (1714-1762) mit seinem 1750 und 1758 erschienenen zweibändigen Werk "Aesthetica". Er griff dabei auf das griechische Wort "aisthesis" zurück, das so viel wie "Wahrnehmung durch die Sinne" bedeutet. Dass es sich dabei um mehr als nur um die Begründung einer neuen philosophischen Spezialdisziplin handelte, will der an der Universität Potsdam mit den Schwerpunkten Ethik und Ästhetik lehrende Philosoph Christoph Menke in seiner Studie "Kraft - Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropo logie" zeigen. Seine These lautet: "In der - oder als - Ästhetik beginnt die moderne Philosophie."

Baumgarten, Privatdozent an der Universität Halle, war ein Anhänger des Rationalismus in der Nachfolge von René Descartes und Gottfried Wilhelm Leibniz. Mit der Erfindung der Ästhetik als philosophischer Disziplin versuchte er eine Leerstelle zu besetzen, die das cartesianische Programm einer rationa listischen Erkenntnistheorie und Moral offengelassen hatte. Für Descartes war die nach strengen methodischen Regeln verfahrende Tätigkeit des Verstandes die einzige Möglichkeit, um zu sicheren und wahren Erkenntnissen über die Welt zu gelangen.

Auf die Sinne dagegen konnte man sich nicht verlassen, sie warfen keinen Erkenntnisgewinn ab. Baumgarten hält an Descartes' neuzeitlichem Programm fest, das Selbstbewusstsein des Subjekts (und nicht mehr, wie in Antike und Mittelalter, die vom Subjekt unabhängige Wirklichkeit) zum Angelpunkt der Philosophie zu machen; aber er versucht, Descartes' vernichtendes Urteil über die Sinnlichkeit zu revidieren, indem er neben dem Verstand auch der sinnlichen Einbildungskraft ein Erkenntnisvermögen zuschreibt. Damit bereitet er den Boden für Kants Erkenntnistheorie, der in der "Kritik der reinen Vernunft" sinnliche Wahrnehmung und Verstand als die "zwei Stämme der menschlichen Erkenntnis" bezeichnet. Die Ästhetik wird zur gleichberechtigten Schwester der Logik.

Ein Widerstreit, der sich nicht auflösen lässt

Für Christoph Menke besteht die entscheidende Frage nun darin, wie man sich diese Zweisamkeit von Sinnlichkeit und Vernunft, Ästhetik und Logik im Subjekt vorstellen soll: in harmonischer Eintracht oder im permanenten Streit. Während Baumgarten ebenso wie nach ihm Kant für das Harmoniemodell optiert, entwickelt Johann Gottfried Herder in seiner kritischen Auseinandersetzung mit Baumgarten eine Theorie des Ästhetischen, welche die sinnliche Wahrnehmung nicht als Erkenntnisvermögen, sondern als Ausdruck einer "dunklen" individuellen Lebenskraft deutet.

Bei Herder heißt es einmal: "So wie das Denken nicht das Erste am Menschen ist, so auch nicht die schöne Erkenntnis der Anfang der Ästhetik. Der Mensch, das Tier, empfindet erst dunkel sich selbst, dann lebhaft sich selbst, und Lust und Schmerz dunkel in sich, dann Lust und Schmerz klar außer sich, und jetzt erkennt er erst."

Herder behauptet also, es gebe einen Gegensatz zwischen rationaler, verallgemeinerungsfähiger Erkenntnis und dunkler, irrationaler individueller Lebenskraft, die ihren Ausdruck in der ästhetischen Einbildungskraft und Fantasie finde. Damit postuliert er einen Widerstreit im modernen Subjekt, der sich nicht harmonisch auflösen lässt. Genau damit aber, so lautet Menkes Diagnose, trifft er die Signatur der Moderne, deren Kennzeichen eben diese Entzweiung zwischen Philosophie einerseits und ästhetischer Erfahrung andererseits ist.

Indem die Ästhetik entdeckt, dass es einen Bereich im Menschen gibt, der nicht rationalisierbar und nicht verallgemeinerungsfähig ist und doch unaufgebbar zu seiner Menschlichkeit gehört, bestreitet sie den Allmachtsanspruch der Philosophie. Christoph Menke resümiert: "Indem sich also die Philosophie, als Ästhetik, auf das Ästhetische richtet, reflektiert sie auf eine Reflexionsweise der Praxis, die ihrer eigenen, der philosophischen, widerstreitet. Das Ästhetische ist als Gegenstand der Philosophie zugleich ihr Gegner.

Den Endpunkt sieht er bei Nietzsche

So wird der Streit zwischen philosophischer und ästhetischer Reflexionsweise durch die Ästhetik in die Philosophie hineingetragen." Den Endpunkt der von Herder angestoßenen Entwicklung sieht Menke bei Nietzsche erreicht. Denn während die Philosophie den Einzelnen zur Verwirklichung des allgemeinen Guten anhalten will, fordert uns Nietzsche auf, wir sollten "die Dichter unseres Lebens sein", weil das Dasein nur ästhetisch (und nicht moralisch ) gerechtfertigt werden kann.

Mit seiner neuen Studie setzt Christoph Menke den Weg fort, den er seit seiner Konstanzer Dissertation "Die Souveränität der Kunst - Ästhetische Erfahrung nach Adorno und Derrida" eingeschlagen hat. Durch seine Lehrer Albrecht Wellmer und Axel Honneth ist er mit der Frankfurter Schule verbunden, in die er Elemente der Differenzphilosophie von Michel Foucault, Jacques Derrida und Jean-François Lyotard aufgenommen hat.

Mit den Frankfurtern (und mit dem alten Hegel) teilt er die Diagnose der Moderne als einem Zeitalter der Entzweiungen, mit den französischen Poststrukturalisten die Weigerung, diese Entzweiungen in einer höheren Harmonie zu versöhnen. Der Widerstreit zwischen Ethik und Ästhetik, zwischen dem allgemeinen und dem individuellen Guten lässt sich für Menke in der Moderne nicht auf lösen. Man kann ihn nur aushalten.

Christoph Menke: Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2008.
160 Seiten, 15 €.

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