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Eine UN-Polizeitruppe hält im März 2004 Kosovo-Albaner und Kosovo-Serben in der ethnisch geteilten Stadt Kosovska Mitrovica auf Distanz.

© AFP

Der mühsame Weg zur Einhegung von Kriegen: Der aufgeklärte Sonderweg

Dieter Langewiesche analysiert Europas Umgang mit dem Krieg – bis zur „humanitären Intervention“ von heute.

In diesem Jahr wird in vielfacher Weise an den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs vor 80 Jahren erinnert. Dieser hat sich in Form und Ausmaß als einzigartig in das europäische Gedächtnis eingeschrieben. Dies hatte allerdings zuvor bereits für den Ersten Weltkrieg gegolten. Beide Weltkriege werden heute zumeist mit Blick auf ihre tiefgreifenden Folgen für die Gesellschaften des 20. Jahrhunderts diskutiert. Eine differenziertere Sichtweise ergibt sich daraus, sie in die Tradition europäischer Kriege in der Neuzeit einzuordnen. Einem solchen Ansatz folgt der Heidelberger Historiker Dieter Langewiesche in seinem opus magnum: „Der gewaltsame Lehrer. Europas Kriege in der Moderne“, erschienen im Rahmen der Historischen Bibliothek der Gerda Henkel Stiftung.

Langewiesche bietet eine differenzierte Analyse europäischer Kriege, ihrer Typen und Entwicklungen seit dem 18. Jahrhundert. Es geht ihm jedoch nicht allein um die Kriege an sich, sondern darum, wie „Krieg als Gestaltungskraft in der Geschichte“ wirksam war und das Gesicht Europas beziehungsweise der ganzen Welt geprägt hat. Dies machen bereits die Kapitelüberschriften deutlich: „Ohne Krieg kein Fortschritt“; „Ohne Krieg keine erfolgreiche Revolution“; „Ohne Krieg kein Nationalstaat und keine Nation“; „Ohne Krieg kein Kolonialreich und keine Dekolonisation“. Es wird deutlich: Die neuere Geschichte Europas – und der Welt – ist ohne Krieg nicht denkbar. Dies gilt zumindest für die politische Geschichte; Fragen der kultur- und sozialgeschichtlichen Prägekraft von Kriegen berührt Langewiesche eher am Rande.

Gewalt als Notwendigkeit

Doch bereits dies ist Leistung genug: umfassend darzustellen, wie Krieg als Konstante in der Entwicklungsgeschichte europäischer Staaten, meist von der Staatsbildung an, gewirkt hat – und wie wiederum unterschiedliche historische Kontexte die Gestalt von Kriegen prägten. Mögliche Einwände – der Krieg sei nicht Gestaltungskraft, sondern bedauerliche Ausnahme oder ungewollte Nebenwirkung in der Geschichte – entkräftet der Autor gleich zu Beginn. Hierzu zieht er mit Immanuel Kant eine Koryphäe der Aufklärungsphilosophie als Kronzeugen heran: In dessen „Philosophie des Friedens“ sei „Änderungsgewalt“ als notwendig vorausgesetzt auf dem Weg zu einer republikanischen Verfassung – und damit gerade zur grundsätzlichen Überwindung des Krieges.

UN-Polizeikräfte sichern die Hauptbrücke von Mitrovica (29. Februar 2008).
UN-Polizeikräfte sichern die Hauptbrücke von Mitrovica (29. Februar 2008).

© Reuters/Oleg Popov

In Kants Gefolgschaft hätten auch die Liberalen des 19. Jahrhunderts „den Krieg als Fortschrittsmotor zum Wohle der Gesellschaft“ ganz selbstverständlich anerkannt. Damit erscheint Krieg in der Retrospektive nicht (nur) als Sache reaktionärer Finstermänner, sondern gerade der sich als progressiv verstehenden Kräfte. Hierfür liefert der Autor dann auch unterschiedliche historische Beispiele von der Französischen Revolution über die kemalistische Bewegung bis zur Selbstdeutung des Kolonialismus als „Zivilisierungsmission“.

Kein Tadel für die Altvorderen

Dabei gibt Langewiesche zunächst einen Überblick über die Phänomene, auf die er die Gestaltungskraft Krieg hin untersuchen will: die Entstehung von Nationalstaaten, den Erfolg von Revolutionen und zuletzt die „humanitäre Intervention“ als Renaissance der „Fortschrittskraft“ Krieg. Hieran anknüpfend entfaltet er einen grundsätzlichen Überblick über die Weltkriege Europas vom 18. bis 20. Jahrhundert, wobei Kolonialismus und Antikolonialismus zu den zu untersuchenden Phänomen hinzutreten. Vor dem Hintergrund dieser Gesamtschau nimmt der Autor dann in den weiteren Hauptteilen des Buches Tiefenbohrungen in die europäische Kriegsgeschichte unter den Gesichtspunkten Revolution, Nationalstaat, Kolonialismus vor und öffnet abschließend den Blick für gegenwärtige Entwicklungen wie eben die „humanitäre Intervention“ sowie für die Perspektiven der Europäischen Union als Friedensprojekt.

Langewiesche entsagt bereits im Vorwort einer „Gouvernanten-Historie, die zu wissen wähnt, wie die Altvorderen hätten handeln sollen, um den guten Weg in die Zukunft zu finden“. Diesem Diktum bleibt er das gesamte Buch über verpflichtet – und verzichtet zudem darauf, seine Arbeit in den Dienst einer (geschichts-)politischen Agenda zu stellen. So bewahrt er sich erfrischende Klarheit und Nüchternheit – gerade wo er sich auf ideologisch vermintem Gebiet bewegt.

Schonung für Zivilisten

Dies gilt etwa für den deutschen Kolonialkrieg in Afrika. Hier arbeitet Langewiesche ebenso die genozidalen Züge des Vorgehens der deutschen Truppen gegen die Herero heraus, wie er eine skeptische Haltung gegenüber vorschnell gezogenen Kontinuitätslinien zur Schoah einnimmt. Vielmehr erklärt er die Schlacht am Waterberg und die hieran anschließenden Entwicklungen im Rahmen gängiger zeitgenössischer Kolonialpolitik und Kolonialkriege.

Die europäischen Kriege außerhalb von Europa stellt Langewiesche immer wieder den innereuropäischen Kriegen gegenüber. Ihre trennscharfe Unterscheidung zieht sich als roter Faden durch das Buch. Dabei wird der Autor nicht müde zu betonen, dass der „gehegte Krieg, der die Zivilbevölkerung möglichst verschont“, einen in der Frühneuzeit entstandenen europäischen „Sonderweg des Krieges“ darstellt: „Außerhalb Europas gab es diesen gehegten Krieg nicht. Auch nicht auf Seiten der europäischen Mächte, wenn sie dort Kriege führten.“

Asymmetrie ist nichts Neues

Dies hat entscheidende Konsequenzen: Zum einen erscheinen die Weltkriege des 20. Jahrhunderts nicht mehr allein als europäische Ausnahmeerscheinung, sondern zugleich als Rückkehr zum globalen Regelfall der Kriegsführung. Zum anderen kratzt diese Einsicht an der Idee sogenannter „neuer Kriege“. Denn vor und neben dem europäischen Sonderweg gehegter Staatenkriege war der asymmetrische Krieg gang und gäbe – und ist der „neue“ Krieg damit eigentlich der „alte“ Krieg, wie Langewiesche konstatiert.

Dass das Buch nicht nur eine Morphologie europäischer Kriege bietet, sondern eben immer wieder auch auf Fragen ihrer Rezeption und Deutung ausgreift, ist einer seiner großen Vorzüge. Denn es eröffnet neue Einsichten und lässt überraschende Vergleiche zu. Dies gilt etwa für die Bedeutung von Kriegen für die Nationswerdung, etwa im Falle des Kampfes gegen Napoleon. Spannende Parallelen ergeben sich, wo Langewiesche dasselbe Phänomen für den Herero-Krieg und die Herausbildung eines Nationalbewusstseins der Herero aufzeigt.

Die unideologische Sachlichkeit des Autors tut freilich der politischen Relevanz seiner Arbeit keinen Abbruch. Diese zeigt sich in besonderer Weise, wenn er im Rahmen seines abschließenden Rück- und Ausblicks nach der Europäischen Union als „Ende des Europas der Kriege“ fragt: „In Europa ist die Idee Nation als Freiheitsvision entstanden und erprobt worden. In Europa ist das Aggressionspotential, das die Nation als Machtvision freisetzen kann, bis ins Extrem der Vernichtungspolitik gesteigert worden. Von Europa sind alle Formen des Kolonialismus und Imperialismus ausgegangen. Das heutige Europa ist erneut ein Laboratorium geworden, nun aber für neue Formen der supranationalen und suprastaatlichen Kooperation und Vereinigung, auch der ‚Transnationalisierung der Demokratie‘.“

Kein Krieg einzelner Staaten mehr

Zähmung des nationalstaatlichen Denkens, Herausbildung europäischer Staatlichkeit ohne „Staatsbildung durch Krieg“, neue Mechanismen friedlicher Konfliktregulierung innerhalb der Union; womöglich eine eigenständige europäische Verteidigungspolitik: Diese Entwicklungen lassen Langewiesche wie vor ihm Jürgen Habermas auf einen „Ausstieg Europas aus seiner Kriegsgeschichte“ hoffen. Dies schlösse dann nicht nur die innereuropäische Befriedung, sondern auch den Verzicht einzelstaatlicher Kriegsführung außerhalb Europas ein.

Dies jedoch würde voraussetzen – diese Pointe steht am Schluss des Buches –, Europa neu zu denken: „Die Geschichte des Europas der Kriege beenden zu wollen, auf den Krieg als Kraft zur Zukunftsgestaltung zu verzichten, ist eine fundamentale politische Entscheidung gegen die Geschichte, keine Folge gemeinsamer europäischer Werte, welche die Geschichte für uns bereithielte.“

Dieter Langewiesche: Der gewaltsame Lehrer. Europas Kriege in der Moderne. Verlag C. H. Beck, München 2019. 512 S. mit 54 Abbildungen, 6 Tabellen und 9 Karten, 32 €.

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