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Martin Niemöller zur Nachkriegszeit.

© mauritius images / United Archiv

Ein markanter Fall der deutschen Geschichte: Der Pfarrer war ganz anders

Benjamin Ziemann verfolgt Martin Niemöllers Weg

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Pfarrer Martin Niemöller als besonders hartnäckiger Gegner Hitlers und der Nazis gefeiert. Seit 1938 war er Hitlers persönlicher Gefangener, erst im KZ Sachsenhausen in Einzelhaft und später in Dachau bis zu seiner Befreiung 1945 durch die Amerikaner in Südtirol, wohin die Sonderhäftlinge evakuiert worden waren. Der Mann wurde weltberühmt als Widerständler und Galionsfigur der Bekennenden Kirche.

Ein Held, ein Heiliger war er; so wollte es die Erzählung, die Freunde, sein jüngerer Bruder Wilhelm und er selbst verbreiteten. Gelegentlich tauchten Dokumente auf, die das schöne Bild trübten, doch die Hüter des Narrativs behielten die Oberhand. Der Pastor, der in der Nachkriegszeit als Kritiker der Westbindung und als glühender Pazifist eine riesige Fangemeinde hatte, war indes weder ein geborener Pazifist noch ein Freund der Alliierten oder der Demokratie.

Nun liegt mit Benjamin Ziemanns umfangreicher Biografie ein Buch zu Niemöllers Leben vor, das das vertraute Narrativ verblassen lässt. Ziemann, Professor in Sheffield und ein führender Experte für die deutsche Geschichte von 1914 bis 1933, ist auch Mitherausgeber der „Gedanken über den Weg der christlichen Kirche“, die Niemöller 1939 in Sachsenhausen verfasste. Ziemann beschreibt Niemöller als oft schroffen, ehrgeizigen und durchaus berechnenden Mann. War er ein Widerständler im politischen Sinne als Kämpfer gegen den Nationalsozialismus ?

Niemöllers feine Unterschiede

Da fällt die Antwort „aus Sicht der Geschichtswissenschaft negativ aus“, notiert Ziemann nüchtern. Niemöller hatte politischen Widerstand gegen Hitler nicht in seinem Programm. Bemerkenswert ist freilich, wie Niemöller später die Stoßrichtung seiner kirchlichen Arbeit ins Politische umzeichnen konnte.

Er war ein mutiger Mann im „Dritten Reich“, lautet der Einwand, sonst wäre er nicht im KZ gelandet. Bloß galten seine „Verweigerung“ oder sein „Loyalitätsentzug“ stets der Kirchenpolitik des Regimes, nicht dessen weltanschaulichen Grundlagen. Er negierte den „totalen Herrschaftsanspruch“ des NS-Staates nur für den Bereich der Kirche. Die Verteidigungsrede, die er bei seinem Prozess 1938 hielt, zeigt deutlich die Schnittmenge zwischen dem Nationalprotestantismus Niemöllers und der völkischen Ideologie der Nazis.

Gleichgültig gegen die Juden

Wie wenig seine Solidarität Menschen galt, die nicht der Kirche angehörten, zeigt die Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal der Juden nach 1933. Die war freilich vor allem seinem ausgeprägten Antisemitismus geschuldet. Auch verstummte sein Ressentiment nach 1945 nicht. „Für Niemöller waren es die Juden, welche die Deutschen verhungern ließen“, notiert Ziemann. Für ihn waren sie „von Hass und Rachegefühlen geleitet“, während die Christen doch Reue und Versöhnung anboten.

Ziemann nennt Beispiel um Beispiel, die den frommen Pastor als strammen Nationalisten und tief verwurzelten Antisemiten zeigen. In jener Verteidigungsrede von 1938 prahlte er damit, dass er schon 1924 die NSDAP gewählt habe. Er strich sein nationalistisches Denken heraus und hielt eine „nationale Wiedergeburt des deutschen Volkes“ nur für möglich , wenn sie von „der Erweckung des christlichen Glaubens“ getragen würde. Zum kirchlichen „Arierparagraphen“ gab er zu Protokoll, die Juden seien ihm „unsympathisch und fremd“. Bei den Richtern kam sein stramm nationalistisches Gerede gut an, doch bei Hitler hat es ihm nichts genützt. Der bestand darauf, ihn gleich nach Sachsenhausen zu schicken.

Eine zutiefst deutsche Gestalt

Niemöller, das macht diese spannende Biografie deutlich, war eine zutiefst deutsche Gestalt. In ihr spiegeln sich die Verwerfungen der deutschen Geschichte vom Kaiserreich bis zur Bundesrepublik. Unter dem Kaiser verkörperte er Englandhass, Chauvinismus und Kriegslust. Er trat mit 18 Jahren in die Marine ein und zog mit Hurra als U-Boot-Offizier in den Ersten Weltkrieg. Gerade Theologiestudent in Münster, kommandierte er im März 1919 das 3. Bataillon der Akademischen Wehr gegen die Rote Ruhrarmee und glorifizierte später seinen Trupp als „Befreier aus der Hölle des Bolschewismus“. Er engagierte sich im Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund, einer, so Ziemann, „völkisch-rassenantisemitischen Partei“.

Neben den Bolschewisten und Sozialisten gerieten so die Juden ins Visier, nicht als religiöse Gruppe, sondern als „rassisches Kollektiv“. Ausgerechnet die große Sozialreformerin, Frauenwahlrechtskämpferin und getaufte Jüdin Alice Salomon gerann Niemöller schon 1918 zum Beispiel für die „gottverfluchten Juden“.

"Opfer" ohne Schuld

Nach dem Zweiten Weltkrieg sah Niemöller das deutsche Volk als Opfer, nicht als von Schuld beladen. Erst als er begriff, dass ohne Schuldeingeständnis kein Weg in die Völkergemeinschaft führte, hat er sich für die Stuttgarter Schulderklärung der EKD starkgemacht. Als dann freilich seine Verteidigungsrede von 1938 die Runde machte und seine Glaubwürdigkeit infrage stellte, „erlahmte“, so Ziemann, „sein Eifer in dieser Sache abrupt“.

Der Mann, der begeisterter Marineoffizier gewesen war, der sogar 1939 aus dem KZ heraus seine Dienste als Marineoffizier „in jeder Kapazität“ angeboten hatte, mutierte nach dem Krieg mit der Wiederbewaffnung zum Pazifisten. Seine Angst vor einem Atomkrieg und die Vorstellung, dass allein Friedfertigkeit die dauerhafte Teilung Deutschlands verhindern könne, waren die Hauptgründe.

Niemöllers Weg vom Nationalisten zum Pazifisten und vom Rechts- zum Linksprotestanten ist ein krummer Pfad. Es ist Ziemann mit dem Handwerkszeug des Historikers gelungen, seinen Protagonisten von der „Ikone der Erinnerung“ wieder zur „Person der Zeitgeschichte“ zu machen. Ein mutiges Unterfangen!

Benjamin Ziemann: Martin Niemöller. Ein Leben in Opposition. DVA, München 2019. 635 S., Abb., 39 €.

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