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Der Schriftsteller als Mahner: Haltung, nicht Gesinnung

George Orwell mahnt.

Als George Orwell im Oktober 1945 seine „Notes on Nationalism“ veröffentlicht, hat Japan gerade kapituliert. Der Zweite Weltkrieg war zu Ende – aber der Krieg zwischen den Ideologien begann erst. Heute haben wir wieder einen Krieg der Ideologien: Klimaretter gegen Klimaleugner, Willkommenskultur gegen Neue Rechte – die öffentliche Meinung in der westlichen Welt ist so polarisiert wie seit Orwells Tagen nicht mehr. Da kommt die deutsche Erstveröffentlichung nach 75 Jahren gerade recht.

Gegen die Verengung des Denkens

Für Orwell ist ein Nationalist „jemand, der einzig und allein – oder überwiegend – in Kategorien konkurrierenden Prestiges denkt“; also Rechte genauso wie Linke. Der Soziologe Armin Nassehi greift diesen Ball auf: „Man sollte“ – schreibt er im Nachwort – „nicht nur an rechtspopulistische oder konfessionelle Bewegungen denken, sondern etwa auch an militante Formen des Klimaprotests, der bisweilen eschatologische Formen annimmt. Vielleicht nehmen sogar kulturkämpferische Debatten zwischen eher urbanen linksliberalen Milieus und den eher verunsicherten traditionellen Milieus ‚nationalistische‘ Dimensionen im Sinne Orwells an.“

Orwells Nationalismus definiert sich durch dreierlei: „Obsession, Instabilität und Gleichgültigkeit gegenüber der Realität“. Nicht nur hier ist Orwells Nähe zur normativen Schule der Politikwissenschaft sowie zu Hannah Arendt, der Theoretikerin des Totalitarismus, spürbar.

Gefühle sind da - und bleiben

Vor allem aber zeigt er, dass Nationalismus jeden treffen kann und dass seine Überwindung keine Frage der „richtigen“ Gesinnung ist, sondern eine der Haltung: „Ein intelligenter Mensch kann einer Überzeugung halb erliegen, die ihm attraktiv erscheint, von der er aber weiß, dass sie absurd ist, und er kann sie lange Zeit aus seinem Kopf fernhalten und nur in Momenten des Zorns oder der Sentimentalität dorthin zurückkehren, oder wenn er sicher ist, dass es dabei nicht um wichtige Fragen geht.“

Man könne seine Gefühle nicht einfach loswerden, indem man seinen Verstand einschalte; aber man könne „zumindest anerkennen, dass man diese Gefühle hat, und verhindern, dass sie die eigenen Denkprozesse kontaminieren“. Das aber bedürfe „einer moralischen Anstrengung“.

Orwell ist Moralist, kein Gesinnungspolizist, der Menschen – wie es die Linke gerne will – ihre Ressentiments aus dem Hirn brennen will, denn Ressentiments sind für ihn eine Naturtatsache. Vielmehr plädiert er dafür, Ressentiments anzuerkennen und sie so weit wie möglich zu „integrieren“.

Intellektualität und Moralität

Nassehi nennt Orwells Werk eine „Aufforderung zur intellektuellen Anstrengung einer ehrlichen Selbstkritik, die die Bedingungen der eigenen Unparteilichkeit mit in den Blick nimmt“: Intellektualität und Moralität, genau darum geht es. Es sind Haltungen, die man sich – gerade in den Wochen nach Hanau und möglicherweise vor einer neuen Flüchtlingskrise – jeden Tag neu erobern muss.

George Orwell: Über Nationalismus. Mit einem Nachwort von Armin Nassehi. Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn. dtv, München 2020. 64 S., 8 €.

Konstantin Sakkas

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