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Literatur: Die Milch der frommen Kindheit

Kräuter und Sommerferien: Katharina Hagena erzählt, woran sie „Der Geschmack von Apfelkernen“ erinnert

Iris hat ein Haus geerbt, das Haus ihrer Großmutter. Auch ihre Mutter und ihre beiden Tanten haben etwas bekommen, aber das Haus, so stand es im Testament, das Haus soll Iris haben. Und als die Beerdigung vorüber war und die anderen abgereist, da blieben Iris noch ein paar Tage, um das Haus besser kennenzulernen. Oder richtiger: wieder kennenzulernen. Denn als Kind war sie in den Sommern ja immer wieder im Haus ihrer Großeltern gewesen und hatte ihre Tage mit den Kusinen und den Nachbarskindern verbracht.

Kein Wunder, dass ihr das jetzt alles wieder einfällt, jetzt, wo sie allein in dem Haus ist, allein mit den Schränken und Kästen und Schreibtischen und den Erinnerungen und Geschichten. Sie probiert die alten Kleider an – darunter ein nahezu goldenes –, sie badet nackt im Dorfteich, und sie hört einem alten Herrn zu, der einmal der Liebhaber ihrer Großmutter war und vielleicht sogar der Vater ihrer einen Tante, und wenn sie durch den Küchengarten der Großmutter gegangen ist, dann riechen ihre Hände hinterher „nach Kräutern und Sommerferien“.

Man ahnt es und wünscht es sich und bekommt es auch: ein erinnerungsseliges Buch, in dem sich die Kindheiten dreier Generationen miteinander mischen, es ist wie das Aufzählen der Blumen in jenem Garten, Phlox und Rittersporn, Lupinen und Ringelblumen, Hortensien, Schafgarbe und solche, die man in der Gegend bei Bremen, in der das Ganze spielt, Funkien nennt, und alle zusammen verbreiten gewiss jenen Duft, den man früher einmal „betörend“ genannt hätte.

Es ist, was man wollte, und eben das ist vielleicht doch ein bisschen zu viel: einfach dasitzen auf dem Stuhl wie Iris, die Füße hochgezogen, während man in den Händen den Becher mit dampfender Milch hält, die dann doch etwas zu sehr die Milch der kindheitsfrommen Denkungsart ist.

Zum Glück ist aber Katharina Hagena nicht nur eine herzliche Erzählerin, sondern auch spürbar eine kluge Frau, die zumeist die überall lieblich drohenden Sentimentalitäten vermeidet. Dass sie dann jemanden das Wort „Nazi“ ans Gartenhäuschen hat schmieren lassen, führt allerdings nicht zu Auseinandersetzungen, sondern nur zu Reminiszenzen an den Großvater und zum Glück auch aufs Freundlichste zurück in die Gegenwart und zu der Frau, die uns das alles erzählt.

Da gibt es nämlich noch Max. Max, der Bruder einer ihrer Freundinnen, ist irgendwie in dem Dorf hängen geblieben, obwohl er Anwalt ist und sicher auch in Bremen Karriere gemacht hätte. So aber wird er eben ihr Anwalt, als Erbin braucht sie jetzt so einen, und weil er gerade ohne Frau ist, so wie Iris gerade ohne Mann, und weil er gescheit und schlagfertig ist und hübsch und hilfsbereit und so weiter, bekommt er nicht nur einen Kuss und unser aller Sympathie, sondern er bringt auch etwas Bewegung in das stilllebenhafte Großmutter-, Mutter- und Tanten-Erinnern. Aber zuvor lesen wir noch die Geschichte von Inga, Rosmarie, Mira und Peter, eine Geschichte, die von zu spät begriffener Liebe handelt, von Eifersucht und Tod, vor allem aber eine Geschichte, die uns zu Herzen gehen soll und das auch tut.

Eigentlich wünscht sich Katharina Hagena das natürlich von allem, was sie uns von dieser Familie erzählt, und da erlaubt sie sich vor lauter Erzähleifer da und dort Sätze und Szenen, die vielleicht ein bisschen zu herzlich sind. Aber man kann auch gerade das mögen, wie den Satz von den Rosen, die „abends schwermütiger duften als tagsüber“, oder die Sache mit den Boskopäpfeln, die nach einer glücklich unter ihnen verbrachten Liebesnacht am nächsten Morgen auf einmal reif sind. Und das im Juni.

Aber so kommt auch etwas Verwunschenes ins Buch, in dem sich die junge Frau eine Familiengeschichte „aus Erinnerungen, Vermutungen, Phantasie und heimlich Erlauschtem zusammenreimt“. „Der Geschmack von Apfelkernen“ ist ein angenehmes Buch, dessen Apfellust an den Garten erinnert, in dem eines Morgens die schöne Judith dem Grünen Heinrich entgegenkommt und mit ihm einen Apfel „von der seltensten Frische und Gewürzigkeit“ teilt. Etwas von dieser Gewürzigkeit hat auch dieser Roman.

Katharina Hagena: Der Geschmack von Apfelkernen. Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008. 356 Seiten, 16,95 €.

Jochen Jung

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