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Sachs

© dpa

Nelly Sachs: Ein Beben, ein Hauch, ein Zittergras

Tanz der Worte: Das Jüdische Museum Berlin erinnert an die Dichterin Nelly Sachs.

Sie war nicht ganz von dieser Welt. „Deine Füße wussten wenig von der Erde, / Sie wanderten auf einer Sarabande / Bis zum Rande – / denn Sehnsucht war deine Gebärde.“ Die Verse über „Die Tänzerin“ sind Teil der „Grabschriften in die Luft geschrieben“, Totengesänge für die in Auschwitz Ermordeten. Doch sie lassen sich auch als Selbstauskunft der Nelly Sachs lesen, als Ausdruck ihres bodenlosen Lebensgefühls. Als Kind tanzt sie zum Klavierspiel ihres Vaters, eines jüdischen Fabrikanten in Berlin. Wohlbehütet wächst sie auf, aber so empfindsam, dass sie bald aus der Schule genommen werden muss und Privatunterricht erhält.

Die Fallhöhe der Tochter aus gutem Hause ist enorm. Zum Tanzen bietet ihr das Leben als Jüdin in Nazideutschland, als Emigrantin in Schweden, als traumatisierte Überlebende wenig Gelegenheit. Ihre Lyrik ist der groß angelegte Versuch, das Trauma von Vertreibung, Flucht und Exil in einen Schwebezustand zu verwandeln und der Trauer Ausdruck zu verleihen: ein Tanz der Worte über dem Abgrund. „Flucht und Verwandlung“ heißt die Ausstellung im Jüdischen Museum Berlin – wie ein Gedichtband von Nelly Sachs aus dem Jahr 1959.

Im Zentrum steht ein gläserner Zylinder, der etwa die vier Quadratmeter Raum enthalten dürfte, die Nelly Sachs in Stockholm genügten. „Kajüte“ nannte sie die Ecke ihrer Wohnung mit Blick aufs Wasser, in der sie aß, schlief und schrieb. Ein kleiner Tisch, eine wuchtige Schreibmaschine der Marke „Mercedes Prima“, ein Schirmlämpchen, ein Telefon, von dem man sich nicht vorstellen kann, dass es funktioniert, und eine Pritsche. Die Ausstellung inszeniert diese Zelle wie ein surreales Raumschiff, das aus Zeit und Raum herausgefallen ist. In einer der „Hörstationen“ ist dazu das Gedicht, „In meiner Kammer“, zu hören, in dem es heißt: „In meiner Kammer / wo mein Bett steht / ein Tisch ein Stuhl / der Küchenherd / kniet das Universum wie überall / um erlöst zu werden / von der Unsichtbarkeit.“

In neun Stationen und einem Epilog folgt die von Aris Fioretos konzipierte Ausstellung den Koordinaten dieses Lebens. Jede Station ist eine geschwungene Hohlform, die mal aussieht wie das Modell eines Berliner Mendelsohn-Baus aus den 20er Jahren, mal wie ein Bücherregal, auf dem die Exponate aufgereiht sind, mal als Guckkasten funktioniert. Stück für Stück verschafft die Ausstellung dieser zerbrechlichen Dichterin so viel Boden unter den Füßen, dass sie wieder sichtbar werden kann – auch entgegen ihrer eigenen Intention, sich ganz zum Verschwinden zu bringen. Nur eine Stimme wollte sie sein, „ein Seufzer für die, die lauschen wollen“.

Im Unterschied zu Paul Celan, dessen „Todesfuge“ zum Kanon der deutschen Literatur gehört, ist das Œuvre der Nobelpreisträgerin von 1966 nur wenig präsent. Ihre frühen, vor 1945 erschienenen Werke – neoromantische Verse, in denen sich „Quell“ auf „hell“ reimt – wollte sie später nicht mehr in Werkausgaben aufgenommen wissen. Dass sie schon damals eine enorme Ausdruckskraft besitzt, zeigen die frühen, in der Ausstellung nachzulesenden Texte, vor allem die Liebesgedichte an einen Mann, in den die 17-Jährige sich während eines Kuraufenthaltes verliebt. Ihre Zuneigung wird nicht erwidert, Nelly Sachs gerät in eine erste psychische Krise und muss, weil sie die Nahrungsaufnahme verweigert, in ärztliche Behandlung.

Der Unbekannte ist die Liebe ihres Lebens. Über seine genaue Identität verrät sie nichts, vermutlich wegen ihm bleibt sie zeitlebens unverheiratet. Er ist das anonyme „Du“ ihrer Liebeslyrik, die gelegentlich klingt, als stammte sie von Gottfried Benn: „Geliebter, hier ist ein Beben / Ein Hauch ein Zittergras / Nimm es, du nimmst mein Leben / Geneigt und tränennass.“ Als sie 1947 im Exil von seinem Tod erfährt, widmet sie ihm die „Gebete an den toten Bräutigam“ – in dem ersten Gedichtband, den sie gelten lässt.

Ihr eigentliches Werk beginnt mit Auschwitz. Das ist der Riss, der alles Frühere unmöglich macht und nach einer neuen Ausdrucksweise verlangt. Es beginnt mit Versen auf die Schornsteine und den Rauch, die Celans „Todesfuge“ an die Seite zu stellen sind. Mit Celan ist sie befreundet, und es ist kaum ein Zufall, dass Nelly Sachs am 12. Mai 1970 in Stockholm stirbt, am Tag von Celans Beerdigung in Paris. Da ist sie 78 Jahre alt.

Das letzte Lebensjahrzehnt, das ihr Ruhm und Anerkennung bringt, hat sie vor allem in Krankenhäusern und Sanatorien zugebracht, kaum in der Lage, allein auf die Straße zu gehen, weil sie sich verfolgt und bedroht fühlt und die an Blut erinnernde Farbe Rot nicht ertragen kann. Sie wird mit Elektroschocks behandelt – und dankt ihrem Arzt, der ihr „das Leben gerettet“ habe. Auch ein Elektroschockgerät der Firma Siemens ist in der Ausstellung zu sehen. „Die Gaskammer hat wohl 20 Minuten gedauert, aber dies hier seit so vielen Jahren“, schreibt Nelly Sachs 1962 an eine Freundin.

Die Bedrohung ist stets gegenwärtig. Schon 1930 war der Vater gestorben, Nelly Sachs lebt von da an allein mit der kränkelnden Mutter. Ihr Haus in der Lessingstraße nutzt ihnen wenig, denn die Bewohner zahlen der jüdischen Witwe keine Miete mehr. Die alltäglichen Schikanen führen dazu, dass Nelly Sachs tagelang die Sprache verliert. 1940 können sie mit dem letzten Linienflugzeug Berlin verlassen – der Deportation können sie knapp entkommen. Selma Lagerlöf hatte sich für sie eingesetzt und ihnen zu einem Visum verholfen. Lagerlöf, eine Art Mentorin für Nelly Sachs, erhielt schon 1921 das erste Buch von ihr und schickte als Antwort eine Postkarte mit der Anschrift „An Nelly Sachs. Schriftstellerin“. Die Karte, eines der anrührendsten Ausstellungsstücke, nimmt die Adressatin mit ins Exil.

Nach dem Tod der Mutter im Jahr 1950 zieht sich Nelly Sachs mehr und mehr in ihre „lyrische Passion“ zurück. „Puls und Atem“, schreibt sie, haben dieses Werk geschaffen, das den Toten eine Stimme verleiht, das die Erfahrung des Exils zurückbindet an die jüdische Geschichte und sie zugleich ins Kosmische überhöht.

„Flucht und Verwandlung“ ist als Wanderausstellung konzipiert. Das mag für ein Leben, das in einen Koffer zu passen scheint, auch angemessen sein. Doch das Werk von Nelly Sachs gehört so sehr ins Jüdische Museum, dass man sich wünschte, die kleine Sammlung von Briefen, Fotografien und Gegenständen könnte dort einen dauerhaften Platz finden.

Jüdisches Museum, Lindenstr. 9 - 14, bis 27. Juni. Di - So 10 - 20 Uhr, Mo 10 - 22 Uhr

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