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Globalisierung ohne Schrecken: Rückkehr in die Leitzentrale

Der israelische Autor Nadav Eyal plädiert für Pragmatismus.

1979 formulierte der Philosoph Hans Jonas seinen verantwortungsethischen Imperativ: „Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“ Zwar nimmt der im selben Jahr geborene israelische Journalist Nadav Eyal in seinem Buch „Revolte“ nicht explizit auf Jonas Bezug. Doch scheint ebendieser Kerngedanke Pate gestanden zu haben, wenn er die Zeit zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und den Anschlägen vom 11. September 2001 als „Zeitalter der Verantwortung“ charakterisiert: „Die Fortentwicklung von Kernwaffen gefährdete zusehends die menschliche Existenz, aber Ängste haben manchmal auch Vorteile, speziell für die Regierenden. Ein solcher Vorteil ist die Vorsicht, und zu deren Wahrung braucht es Verantwortung.“ Relative Stabilität, Frieden und Wohlstandssteigerung waren Früchte dieser Epoche.

Verlierer und Gewinner

Das „Zeitalters der Verantwortung“ erlebte der Autor in Kindheit und Jugend – als Journalist ist er jedoch Chronist der Ereignisse und Entwicklungen der vergangenen fast zwanzig Jahre. Diese beschreibt Eyal als „ein Ringen um das Schicksal der Welt“, „zwischen denen, die meinen, die Welt gehe langsam auf eine politische und kulturelle Vereinigung zu, und denjenigen, die dieses Szenario für einen furchtbaren Albtraum halten und bereit sind, Menschenleben zu opfern, damit dies nie eintritt“. Das mag pathetisch klingen – trifft aber die Beobachtungen, die der Fernsehkorrespondent bei Recherchereisen sammeln konnte, die ihn zu den unterschiedlichsten Verlierern und Gegnern der Globalisierung führten.

Ihre Porträts verknüpft „Revolte“ mit hiervon ausgehenden historischen und politischen Reflexionen; dabei trägt die Mischung aus Reportage- und Sachbuch nicht immer zur Konsistenz der Argumentation bei. Eyal schreibt von pakistanischen Islamisten, griechischen Extremisten – Antikapitalisten wie Antisemiten – sowie Trump-Anhängern in den USA. Es werden Dimensionen der Globalisierung beleuchtet, die ebenso vielfältig sind wie Eyals Helden (und Antihelden): soziale, ökonomische, politische, kulturelle – und ökologische. Denn als vielleicht größter „Verlierer“ kommt auch die Umwelt immer wieder in den Blick; etwa in Gestalt der um ihren Lebensraum kämpfenden Elefanten auf Sri Lanka.

Abstiegsängste gegen Vertrauen in die Zukunft

Dabei gelingt es Eyal – so unterschiedlich die Problemlagen und Widerstandsbewegungen sind –, eine Reihe gemeinsamer Phänomene herauszuarbeiten. Aufseiten der Ursachen wären dies neben sozialen Abstiegsängsten vor allem die Infragestellung des Lokalen durch das Globale sowie ein Gefühl der Willkür angesichts von Entwicklungen, die sich der eigenen Einflussnahme entziehen. In Reaktion hierauf verbinden sich die – teils ideologisch entgegengesetzten – Globalisierungsgegner für Eyal zu einem „Kreuzzug“ gegen „die Werte, die dem Zeitalter der Aufklärung entstammen: Vertrauen auf Vernunft und Fakten; Anerkennung von Wissenschaft und Technologie als Mittel zur Verbesserung der conditio humana; Liberalismus im weitesten Sinn“.

Demgegenüber tritt der Autor selbst für eine „Heilung der globalisierten Welt“ ein: „Als politische Idee darf die Globalisierung Identität, lokale Verwurzelung und Tradition nicht einebnen, sondern muss sie schützen. Das sind keine leeren Parolen, sondern Grundsätze, die weitreichende internationale Reformen verlangen.“ Wirklich neu sind Eyals konkrete Forderungen nicht (was freilich ihrer Richtigkeit keinen Abbruch tut): etwa konsequenter Klima- und Umweltschutz, etwa um den Heimatverlust möglicher Klimaflüchtlinge abzuwenden, oder ein „internationales Besteuerungssystem für Großkonzerne“.

Realismus in Sachen Konflikte

Erfrischend für die deutsche Leserschaft dürfte hingegen der – hierzulande eher randständige – geo- und sicherheitspolitische Realismus sein, den Eyal beweist: So fordert er etwa die Rückkehr der USA in die „globale Leitzentrale“ zwecks „Erhalt der Nachkriegsordnung“ und bekennt sich zur Notwendigkeit der Wahrnehmung internationaler Schutzverantwortung: „Je weiter die globale Integration voranschreitet, desto dringlicher werden Interventionen bei sogenannten ‚lokalen‘ oder ‚regionalen‘ Konflikten.“

Dass es Eyal gelungen ist, mit „Revolte“ ein plastisches Porträt der weltpolitischen Großwetterlage vorzulegen und die großen Linien der aktuellen Auseinandersetzungen um die Globalisierung nachzuzeichnen, steht außer Frage. Jedoch gehört zum Gesamtbild auch, dass die Eindrücklichkeit des eigenen Narrativs vor allem in den Kapiteln zur gegenwärtigen Migrationspolitik zulasten von Sachlichkeit und Präzision geht.

USA als Einwanderungsland?

Etwa die USA an der Wende zum 20. Jahrhundert als freizügiges Einwanderungsland par excellence zu apostrophieren, ist – gerade angesichts der zeitgleich betriebenen Indianerpolitik, um die der Autor weiß – ebenso fragwürdig, wie Migrationsbewegungen quasi geschichtstheologisch als unabweisbares Fatum zu überhöhen und demgegenüber Migrationskontrolle als historische „Anomalie“ zu deklassieren. Die hier eröffnete Dichotomie zwischen Nationalstaatlichkeit und Kosmopolitismus schadet Eyals berechtigtem Anliegen: für ein „Migrationsnarrativ“ zu werben, das es westlichen Staaten ermöglicht, sich in einem positiven Sinne als Einwanderungsländer zu verstehen.
Nadav Eyal: Revolte. Der weltweite Aufstand gegen die Globalisierung. Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama. Verlag Ullstein, Berlin 2020. 492 S., 29,99 €.

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