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Hörbücher: Heiliges Walross!

Jens Sparschuh sucht neue Welten zu Lande und auf hoher See.

Es war Nordamerikas Küste, an die sich einst, vom Wind zerzaust und wild entschlossen, jene Eroberer und Pioniere geflüchtet hatten, denen das alte Europa zu eng, zu miefig geworden war. Vielleicht liegt es an diesem abenteuerlichen genetischen Erbteil, dass amerikanische Autoren Spezialisten für Roadmovies und andere Aufbrüche in neue Welten sind. Ihr 7. Sinn für unsere existenzielle Unbehaustheit, gegen die auch Riester-Rente und staatliche Eigenheimzulage wenig helfen, scheint jedenfalls untrüglich zu sein.

T.C. Boyle schickt in „Der Polarforscher“ (Der Hörverlag, 2009) seine Brigg „Endevear“ von Brooklyn aus zum Nordpol. Schon nach wenigen Minuten, als eine heftige Windböe dem feierlich auf der Brücke stehenden John Pennigton Frank die Kapitänsmütze aus der Hand reißt und kurz darauf eine riesige Welle ihm auch noch eiskalt eine klatschnasse Ohrfeige verpasst, weiß man, wohin die Reise in diesem Hörbuch wirklich geht: Es ist eine von abgründiger Komik untermalte Parodie auf die Gattung „Expeditionsgeschichte“. Das Segelschiff hält Kurs auf Norden. Dort, im molligen Iglu, sitzt Eskimo Nr. 1 (Kresuk) bei seinem Fastfood: Walross-Sushi. Als ihm Eskimo Nr. 2 (Metek) berichtet, was er gerade gesehen hat („Es war so groß wie das schwimmende Eis. Es hatte große, weiße Flügel und flog über dem Wasser …“), kommentiert Kresuk das kurz und kauend: „Gequirlte Robbenscheiße!“

Doch dann klemmt das Segelschiff im Packeis fest, und Kresuk kann es mit staunenden Augen selbst sehen: „Heiliges Walross!“ Auch der Captain sieht ihn. Er verwechselt Kresuk, der in einem zottigen Fellmantel steckt, allerdings mit einem leibhaftigen Bären – und schießt auf ihn. So ist immerhin der erste Kontakt zu den Einheimischen hergestellt! Auf dünnem Eis, politisch völlig inkorrekt, schlittert diese Geschichte von allerschwärzestem Humor durch das ewige Weiß der Arktis. Dazu gibt es eine wunderliche Musik, die sich anhört wie eine Direktübertragung aus dem gluckernden Innern eines Walfischbauchs.

Zum Glück überlebt Kresuk, fortan ist er der einzige Nahrungsmittellieferant. Die Mannschaft wird trotzdem von Tag zu Tag weniger: Tribut an Kälte und Skorbut. Einmal wird ein Suchtrupp ausgeschickt. Der verschwindet. Dann soll ein weiterer Suchtrupp den Suchtrupp suchen. So drehen sie sich im Kreise. Als die Suchtrupps einander gefunden haben, müssen sie nur noch den Rückweg finden …

Ob auch die beiden Brüder Frank und Jerry Lee in Willy Vlautins Roman „Motel Life“ (Patmos, 2008) jemals den Rückweg finden? Vom Unglück verfolgt, wollen sie nur eines: weg! Ein tragischer Unfall ist Auslöser für diese Flucht, doch die Ursachen für ihr ewiges Weglaufen, das erfährt man in diesem akustischen Roadmovie, sind andere. Es ist eine Reise durch scheinbar endlose Motel-Nächte - de facto dauert sie viereinhalb Stunden. Dass man in jedem einzelnen Moment mit diesen beiden Unglücksbrüdern hofft und bangt, liegt vor allem an Stefan Kaminski: Seine faszinierende, schier grenzenlose Stimmakrobatik verwandelt diese Lesung in ein Hörspiel.

Auch Henry Millers „Das Lächeln am Fuß der Leiter” (Parlando, 2009) gehört in diese Aussteiger-Reihe. Als Miller diese feine, kleine Zirkuserzählung schrieb, konnte er nicht ahnen, dass der weinende Clown heutzutage in jedem verkitschten 1-Euro-Laden zu einem traurigen Pappsymbol verkommen ist. Trotzdem, dieser dumme August hat ja recht: „Wir sind immerzu im Werden, immerzu einsam und losgelöst. Für immer außen.“

Die neue Welt, nach der wir suchen, kann sogar der Wald vor der eigenen Haustür sein. Das lehrte Henry David Thoreau, ein Klassiker der Aussteigerliteratur: „Walden. Leben mit der Natur“ (Hoffmann und Campe, 2009). Aber Vorsicht: Hier kann man wirklich jeden einzelnen Satz dick unterstreichen. Wer nun trotzdem nicht sofort, so wie einst Thoreau, vom Nachbarn eine Axt borgen und sich in den Wald verziehen will, der könnte ja, nachdem er diese Lesung gehört und verinnerlicht hat, sich mit Jean Pauls philosophisch geläuterter Light-Variante behelfen: „Das Landleben ist in, nicht außer uns.“

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