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Joyce Carol Oates: Gewalt und Schönheit

Zarte Seele, sanfter Blick: Der Schriftstellerin Joyce Carol Oates zum 70. Geburtstag.

Sie ist die wohl produktivste Schriftstellerin der Gegenwart. Joyce Carol Oates, am 16. Juni 1938 im Bundesstaat New York geboren, hat rund 50 Romane geschrieben, alleine die Hälfte davon in den letzten zehn Jahren. Daneben verfasst sie Kritiken, Essays, Kurzgeschichten, Gedichte, Bühnenstücke und literaturwissenschaftliche Arbeiten, unterrichtet Kreatives Schreiben an der Princeton University und gibt seit 1961 die angesehene Literaturzeitschrift „Ontario Review of Books“ heraus.

Keiner ihrer Romane, allesamt Ausdruck von unbändigem Schaffensdrang und eiserner Disziplin, ist unter 300 Seiten stark, mit „Blond“ (2000), einem Werk über Marilyn Monroe, näherte sie sich der Tausender-Marge. Dazu passt das Gerücht, dass die Schriftstellerin auch noch ihren Haushalt alleine bewältigt und Freundinnen schon mal beim Fensterputzen aushilft.

Joyce Carol Oates steht in der Tradition des realistischen Romans des 19. Jahrhunderts. Balzac gilt als ihr Vorbild, sie selbst erweitert das Bezugsfeld auf Herman Melville, Henry James und Emily Dickinson. In dieser Tradition begreift sie sich als Chronistin ihrer Zeit: „Als Autorin, die ihren Beruf ernst nimmt, muss ich meiner Gesellschaft den Spiegel vorhalten.“ Oates hat die großen Krisen Amerikas beschrieben, den Bürgerkrieg, den Kalten Krieg, den Vietnamkrieg. Sie gibt den Underdogs eine Stimme, hat sich in die Seele eines Immobilientycoons eingefühlt und in die eines Massenmörders. Sie hat den Rassismus der Fünfziger und die Emanzipationsbemühungen der Frauen in den Siebzigern beschrieben.

Sie ist eine zarte, schmächtige Person; so mager, dass man fast ihr Verschwinden befürchtet. Das Schwerste an ihr dürften die Brillengläser sein, hinter denen sie mit kurzsichtigen Augen skeptisch hervorlugt. Journalistenfragen beantwortet sie mit großer Geduld: Warum sind ihre Bücher so voller Gewalt? Ganz einfach, sagt sie, „ich habe mir ein Terrain zurückerobert, das die Männer seit Tausenden von Jahren besetzt halten. Schon die Ilias des Homer war voller Gewalt und Schönheit.“ Dabei ist Gewalt bei Oates nie Zweck, sondern immer Mittel der Erzählung. Eine Konstante ihres Schaffens sind Vergewaltigungsszenen, vielleicht weil sich in ihnen der Konflikt zwischen Mann und Frau als zentraler Konflikt der Gegenwart zuspitzt.

Der aufklärerische Impetus ihres Schaffens hebt Joyce Carol Oates ab von der geläufigen Haltung vieler Gegenwartsschriftsteller, derzufolge Literatur keines Herren Diener sei. Oates steht in der Tradition der littérature engagée. Ihre Sympathien liegen bei den Ausgegrenzten. So stammt der Held ihres Jugendromans „Nach dem Unglück schwang ich mich auf, breitete meine Flügel aus und flog davon“ ausgerechnet aus jener Schicht, die im Amerika als white trash bezeichnet wird. Er lebt in einer Wohnwagensiedlung, fährt Motorrad, beherrscht die Regeln der Straße und hat mehr mit Alkohol zu tun, als es das Jugendschutzgesetz erlaubt. Exemplarisch zeigt dieser Roman Oates’ erstaunliche Fähigkeit zur Mimikry.

Oates-Romane lesen sich leicht weg. Die manchmal drastische Handlung und die eingängige Sprache haben ihr den Vorwurf eingetragen, die Nähe zur Trivialliteratur zu suchen. Doch triviale Konstellationen erhalten Tiefe durch die Art der Betrachtung, und die ist bei Oates über alle Zweifel erhaben. Dass sie weniger sprachlichen Kunstwillen zeigt als beispielsweise ihr kanadisches Pendant Margaret Atwood, ist vielleicht ein Grund dafür, dass Oates zwar Jahr für Jahr als aussichtsreiche Literaturnobelpreiskandidatin gilt, ihn aber noch nie bekommen hat. Dabei hätte sie die Auszeichnung für ihr herausragendes Lebenswerk allemal verdient. Ein amerikanischer Kritiker hat einmal gesagt, es müsste in einer fernen Zukunft möglich sein, den amerikanischen Alltag des 20. Jahrhunderts perfekt zu rekonstruieren, indem man die Romane der Joyce Carol Oates zu Rate zieht. Tanya Lieske

Tanya Lieske

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