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Jugendbücher: Raus ins Leben

Geschichte und Familiengeschichten. Leben im goldenen Käfig oder am Rand der Gesellschaft: Jugendliche der Berliner Literatur Initiative (BLI) empfehlen neu erschienene Jugendbücher.

Russenghetto

Die 17-jährige Sascha hat zwei große Träume. Sie will ein Buch über ihre Mutter schreiben und ihren Stiefvater Vadim umbringen. Seit sie aus Moskau nach Deutschland gezogen sind, terrorisiert er die ganze Familie. Einige Monate, nachdem sich Saschas Mutter von ihm trennt, kehrt er zurück und erschießt sie und ihren neuen Freund.

Nun wohnt Sascha mit ihren Halbgeschwistern Anton und Alissa und Vadims aus Russland angereister Cousine Maria im Solitair, dem "Russenghetto" in einer Vorstadt von Frankfurt. Da Maria aber kein Deutsch spricht und panische Angst vor der Obrigkeit hat, ist es eigentlich Sascha, die die Familie anführt.

Als ein Zeitungsartikel erscheint, in dem Vadim milde beurteilt wird, fährt Sascha wutentbrannt in die Redaktion nach Frankfurt. Dort lernt sie den verantwortlichen Chefredakteur Volker kennen, der sich sehr für den Artikel entschuldigt und Sascha seine Hilfe anbietet. Am gleichen Tag trifft Sascha Maria mit Herrenbesuch zu Hause an, woraufhin sie Volker anruft und für ein paar Tage um Asyl bittet. Während sie bei Volker wohnt, gerät sie trotz ihres vor allem durch Vadim geprägten Männerhasses in eine Dreiecksbeziehung mit Volker und seinem 16-jährigen Sohn.

"Scherbenpark" ist von der Kritikerjury des Deutschen Jugendliteraturpreises im März 2009 nominiert worden - absolut zu Recht. Alina Bronsky Debütroman entwickelt einen regelrechten Sog, dem sich der Leser kaum entziehen kann. Obwohl es eine harte Geschichte ist, gibt es auch komische Momente. Überzeugt hat mich vor allem die lebensbejahende Grundstimmung.
Lennard Sund

Alina Bronsky, Scherbenpark. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008. 286 Seiten. 16,95 €.

Vatersuche

Lucas ist fast sechzehn, als er Violet begegnet. Ihre Asche steht in einer Urne auf einem Regal in einer Taxizentrale. Obwohl Lucas nichts über Violet weiß, übt sie eine Anziehungskraft auf ihn aus, die ihn nachforschen lässt.

Wer war die alte Dame, die alle in seiner Umgebung zu kennen scheinen und über die doch keiner spricht? Was hat sie mit seinem seit Jahren verschwundenen Vater zu tun? Während Lucas immer mehr über Violets Geschichte erfährt, beginnt er, seine zerrüttete Familie zu verstehen. Seine Schwester, die den Kummer über den Vater mit draufgängerischer Selbstsicherheit überspielt, seine Mutter, die all ihren Frust an den Kindern auslässt, sein kleiner Bruder, der den Vater nie kennengelernt hat und doch mehr zu wissen scheint als alle anderen. Und nicht zuletzt sein demenzkranker Großvater, der das Rästel lösen könnte. Wo ist Lucas' Vater?

Die Autorin benutzt wenig wörtliche Rede, fast alles spielt sich im Kopf des jugendlichen Protagonisten ab. Das gibt der Handlung Witz und dem Leser die Möglichkeit mitzufühlen. Ich war auch durch die erstaunlich gut durchdachte Geschichte gefesselt. Ausgezeichnet mit dem Guardian Children's Fiction Prize 2007, ist dieser Titel unbedingt lesenswert und regt zum Nachdenken an, warum Menschen so sind, wie sie sind.
Valerie Kiekebusch, 14 Jahre

Jenny Valentine, Wer ist Violet Park? dtv, München, 2008. 200 Seiten. 8,95 €.

Varusschlacht

Auf Wunsch des Kaisers Augustus reist der Senatorensohn Caius mit seinem Freund Lucius nach Germanien. Sie sollen lernen, wie das römische Reich gegen den immer stärker werdenden Widerstand der germanischen Stämme bestehen kann. Auf dem Weg finden sie die Leiche eines kaiserlichen Boten, der einen geheimnisvollen Brief von Varus, dem Statthalter in Germanien, an Kaiser Augustus überbringen sollte. Dieser Brief wird gestohlen.

Varus beschließt auf den eindringlichen Rat von Arminius, einem germanischen Hilfstruppenführer in römischen Diensten, Aufstände der Germanen niederzuschlagen. Mit drei Legionen, denen sich auch Caius und Lucius anschließen, zieht er los. Doch die Nachricht von den angeblichen Aufständen war nur eine List von Arminius, um das römische Heer in einen Hinterhalt zu locken und zu vernichten. Als auch noch ein Teil der römischen Truppen auf die Seite der Germanen übergelaufen ist, erkennt Varus, dass er keine Chance hat.

Deshalb übergibt er Caius etwas, das auf keinen Fall in die Hände des Feindes fallen darf, weil es eine schreckliche Blamage für das römische Reich wäre. Zusammen mit seiner germanischen Freundin Fastrada macht Caius sich auf den Weg, das wichtige Paket zurück zu seinem eigentlichen Besitzer Kaiser Augustus zu bringen.

Mir hat dieses Buch sehr gut gefallen, weil es auf eindringliche Weise die historische Varusschlacht schildert. Besonders gelungen fand ich, dass die Geschichte aus verschiedenen Perspektiven geschrieben ist und man so miterlebt, wie sich das Netz um das römische Heer zusammenzieht. Dadurch ist mir erst richtig klar geworden, wie aussichtslos die Lage der Römer war. "Signum" ist keine historisch-trockene Zusammenfassung der Varusschlacht, denn die Begebenheiten der Niederlage erfährt man nebenbei aus den Perspektiven der Hauptpersonen. Ich empfehle das Buch nicht nur Leuten, die Bücher mit historischem Hintergrund mögen, sondern auch solchen, die einfach gerne eine spannende Geschichte lesen, die man nicht mehr weglegen kann!
Elias Bender, 14 Jahre

Michael Römling, Signum. Die verratenen Adler. Coppenrath, Münster 2009. 500 Seiten. 16,95 €.

U-Boote

"Abgetaucht!" ist eine autobiografische Geschichte. Sie schildert das Leben des kleinen Eugen, der während des Nationalsozialismus zu einem jungen Mann heranwächst. Eugen muss schon bald mit seiner Mutter untertauchen, denn auch sein nichtjüdischer Stiefvater kann ihnen nicht weiterhelfen. Eugen erzählt von all seinen Erlebnissen, von den verschiedenen Verstecken, seiner Angst, gefunden zu werden oder ein Familienmitglied zu verlieren. Und er fragt sich, was die Juden verbrochen haben, damit etwas so Grausames wie der Abtransport ins KZ geschehen kann.

Es geht in "Abgetaucht!" aber auch darum, wie schwer es als jüdischer Junge damals war, ein normales Leben zu führen und gewisse Erfahrungen zu machen. Eugen beschreibt, was in Berlin passiert ist, als Hitler die Juden vergasen und töten ließ. Die Freunde, die ihm helfen unterzutauchen, bilden eine Widerstandsgruppe, sie werden U-Boote im Widerstand. So nannten sich die Berliner Juden. Um ihren Widerstand zu zeigen und den unwissenden Menschen die Wahrheit klarzumachen, verschicken sie Kettenbriefe und verteilen Flugblätter. Sie probieren alles Mögliche. Aber was ist, wenn man nicht aufpasst, wenn man Verräter in seiner Widerstandsgruppe hat?

Dieses Buch hat mir deutlich gemacht, wie schwer es die Juden im Nationalsozialismus hatten und auf welche Weise sich ihre Lage verschlimmert hat, vom Boykott aller jüdischen Geschäfte bis hin zum Verbot, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen und sogar die Schule zu besuchen. Mich hat es sehr beeindruckt, dass der Autor dies alles selbst miterlebt hat. Es war eine sehr gute Idee, Fotos ins Buch zu nehmen, da einem dadurch noch klarer wird, dass das wirklich jemand erlebt hat und alles wahr ist. Ich möchte dieses Buch weiterempfehlen, auch wenn dieses Thema für viele von uns abgedroschen ist. Trotzdem ist es wichtig und wurde mir nähergebracht.
Lea Wyrwal, 14 Jahre

Eugen Herman-Friede, Abgetaucht! Als U-Boot im Widerstand. Gerstenberg, Hildesheim 2009. 255 Seiten. 14,90 €.

Grundrechte

Dieses Buch fasst mit Erklärungen zu den ersten 20 Artikeln den Charakter des Grundgesetzes zusammen. Durch diese Grundrechte bekommt man einen guten Überblick über das Fundament des deutschen Staates. Dazu gehört ein Teil über die Entstehung der Verfassung, die Überlegungen der Verfasser und die historischen Hintergründe. Was ist es in der Zeit einer europäischen Verfassung noch wert? Wird die Weltwirtschaftskrise dem Sozialstaat den Garaus machen? Komplexe juristische oder politische Überlegungen werden nachvollziehbar.
Dorian Alt, 16 Jahre

Peter Zolling, Das Grundgesetz. Hanser, München 2009. 192 Seiten. 14,90 €.

Missbrauch

Malvina ist 13. Ihr Großvater behauptet, er sei gestürzt, sie soll sich um ihn zu kümmern. Bisher ist sie immer mit einer Freundin hingegangen, doch die ist verreist. Malvina wird von ihrem Großvater missbraucht, doch ihre Familie nimmt sie nicht ernst.

In einer verlassenen Villa, in der sie im letzten Sommer noch gespielt hat, trifft Malvina auf einen Jungen, der beim Spielen ihr Feind war. Sie nennt ihn Klatsche, er sie Rotkäppchen, weil er sie beobachtet hat, wie sie ihrem Großvater Essen bringt. Die Nachbarin des Großvaters ahnt, was mit Malvina passiert, und macht ihr Mut. Malvina und Klatsche werden ein Paar, das stärkt sie. Sie denkt sogar kurz daran, zur Polizei zu gehen. Auf jeden Fall will sie ihren Großvater verraten.

Mir hat das Buch unglaublich gut gefallen. Das Thema Missbrauch scheint erst mal abschreckend, doch es ist sehr nachvollziehbar, durch welche Ereignisse das Opfer neuen Mut schöpft. Beate Teresa Hanika erzählt so spannend, dass das Buch keinerlei Längen hat.
Henriette Link, 13 Jahre

Beate Teresa Hanika, Rotkäppchen muss weinen. Fischer, Frankfurt 2009. 224 Seiten. 12,95 €.

Hunger

"Biographie des Hungers" erzählt die Geschichte der ersten 20 Lebensjahre von Amélie Nothomb. Die Diplomatentochter verlebt ihre Kinderjahre in Japan, ihrem Paradies, wo sie sich als Göttin fühlt. Nach außen hin erscheint alles vollkommen, doch in ihr tobt der Hunger - nach Wasser, Süßigkeiten, Alkohol, Liebe, dem Tod. Amélies verschiedene Arten von Hunger werden durch das Umziehen von Land zu Land bestimmt. Als ihre Familie Japan verlassen muss, bricht ihre Welt im maoistischen China zusammen. China ist eine hungrige Wüste. Amélie entdeckt dort ihren Hunger nach Liebe und Süßigkeiten. Zwei Jahre später in New York lassen sich ihre Eltern im bunten Treiben Amerikas gehen. Die achtjährige Amélie zieht mit ihrer Familie abends um die Häuser und entdeckt bald großes Verlangen nach Alkohol. Darauf folgt der Umzug nach Bangladesch. Als Elfjährige erlebt sie zum ersten Mal richtiges Leid. Sie schämt sich und fängt an, ihren Körper zu hassen, entwickelt eine Magersucht, die sie fast umbringt. Sie merkt, dass sie nicht sterben will, und verspürt endlich Hunger nach Leben.

Amélie Nothomb beschreibt ihre Kindheit aus einem erwachsenen Sichtwinkel. Was sie erzählt, passiert in einer Form des Extremen - das hat mich verwirrt, gleichzeitig war es aber spannend zu lesen. Eigentlich kann ich mir nicht vorstellen, dass ein drei- oder sechsjähriges Kind in so einer Form von sich denkt, aber durch die sehr lebhaften Beschreibungen wird dieses Unwirkliche real.
Ingrid Sinell, 16 Jahre

Amélie Nothomb, Biographie des Hungers. Diogenes, Zürich 2009. 207 Seiten. 18,90 €.

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