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Jurjews KLASSIKER: Im Westen was Neues

Oleg Jurjew lobt Gabriel Chevalliers Kriegsroman „Heldenangst“.

Der Erste Weltkrieg ist wie kein anderer Krieg (mit Ausnahme des Trojanischen) literarisch verarbeitet worden. Dutzende von erstklassigen Büchern in den Sprachen aller Kriegsparteien stellen diesen höchst langweiligen, im direkten wie übertragenen Sinn schmutzigen und in seiner mechanischen Unmenschlichkeit grausamen Krieg kunstvoll dar. Das Erstaunlichste dabei ist: Trotz kultureller und persönlicher Unterschiede, unbeschadet des Genres (etwas zynische Satire wie bei Jaroslav Hašek, etwas müde Romantik wie bei Erich Maria Remarque oder etwas satirischer Zynismus wie bei Louis-Ferdinand Céline, um die berühmtesten zu nennen) bleibt das Bild des Krieges praktisch dasselbe, wenn es aus der Perspektive eines einfachen Soldaten, eines „Grabenschlachtviehs“, gezeichnet wird.

Jedes nächste Buch bestätigt auf immer neue Art und Weise das Bekannte. Sogar Details wiederholen sich, Situationen, Gesichter, Geschichten – ohne jeglichen Plagiatsverdacht. Darin liegt für mich die Faszination solcher Bücher. Das ist der einzige Krieg in der Geschichte (den Trojanischen miteingerechnet), über den wir nicht belogen wurden. Die jungen Leute, die aus dem vernunft- und fortschrittsbesessenen Jahrhundertwende-Europa in die Gräben geworfen worden waren, waren anscheinend so geschockt, dass sie nicht lügen konnten.

Nun lese ich „Heldenangst“, den 1930 unter dem Titel „La peur“ in Frankreich erstmals erschienenen Kriegsroman von Gabriel Chevallier, der erst jetzt von Stefan Glock ins Deutsche übersetzt worden ist (Nagel & Kimche, Zürich 2010, 432 Seiten, 24,90 €) und staune wieder: Das ist ein autobiografischer Tatsachenroman, präzise, ironisch, wütend und verdeckt-sentimental geschrieben. Und natürlich mit vielen lebenserklärenden Aphorismen versehen. Jede traditionsbewusste französische Prosa tendiert dazu, im Endeffekt eine Aneinanderreihung von Aphorismen zu werden.

Gabriel Chevallier (1895–1969), weltberühmt für seine antiklerikale Satire „Clochemerle“ (1934), war ein Lyoner Student, der den ganzen Krieg als Infanterist in den Gräben mitmachte. Er bekam die Croix de Guerre und wurde zum Chevalier de la Legion d’Honneuer, dennoch hat er ein Buch über die allgegenwärtige Todesfurcht geschrieben – ein Affront für die im Helden- und Kriegskult erzogene französische Gesellschaft. Das ist ein sehr ernstes, mit keinen Schrecken und Alpträumen des Kriegs geizendes Buch, aber wie oft triffst du auch hier alte Bekannte!

Was woanders als Skurrilität erscheint, als besonders gelungener Einfall eines grinsenden Autors, bekommt hier fast natürliche Züge. Der k.-u.-k.-Generalmajor Hašeks beispielsweise, der die Reihen der mit runtergelassenen Hosen in die Hocke gegangenen Soldaten inspiziert und den braven Soldaten Schwejk väterlich fragt, ob er sich den Arsch bereits abgewischt habe, findet bei Chevallier sein Pendant, einen französischen Latrinenoberst: „Man begegnete ihm nur in den Duschen und Latrinen. Er vertiefte sich in die Betrachtung der Gräben, stocherte mit seinem Stock darin herum und empfing diejenigen, die sich über seine Anwesenheit dort wunderten, mit einem munteren ,Nur zu Kinder, nur keine Scham. Wenn der Bauch funktioniert, funktioniert auch der Rest.’“ Gabriel Chevallier macht nicht nur Hašek, sondern auch viele andere Klassiker des Ersten Weltkriegs nachträglich zu Dokumentaristen!

Die Bürokratie, die bis in die Gräben geht, wo unter Beschuss berichtet und von den Meldegängern (der Frontberuf des Ich-Erzählers der „Heldenangst“) zu den Offizieren getragen wird. Die Kriegsführung bar jeder Vernunft. Die Langeweile, der Schmutz und die Furcht – all das ist zu allen Seiten aller Frontlinien gleich. Übrigens: Die Erlebnisse des Ersten Weltkriegs erklären teilweise, warum die Franzosen sich, im Grunde genommen, weigerten, am Zweiten Weltkrieg teilzunehmen, was zum „Seltsamen Krieg“, zur Kapitulation, zur Bildung eines Marionettenstaats, der an Naziverbrechen mitbeteiligt war, führte. Nicht ohne Grund hat Chevallier 1939 den Verkauf seines Buchs untersagt. Ich glaube nicht, dass „La peur“die Kapitulation Frankreichs erwirken oder begünstigen hätte können. Aber sie zu verstehen, hilft es zweifellos.

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