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Lange Nacht der Literatur: "Wir brauchen ein neues 68“

Die Akademie der Künste redet über Engagement. Günter Grass war von allen Autoren wieder der frischeste.

Der Diskussionsleiter will abstimmen lassen. Einer sagt, erst müsse man über den Diskussionsleiter abstimmen. Ein anderer will darüber abstimmen lassen, ob abgestimmt werden soll. So ging es zu auf den Vollversammlungen der Studenten im Jahr 1968. So beschreibt es Uwe Timm in seinem Roman „Heißer Sommer“. Die Passage wäre heute absolut lesebühnentauglich. Als das Buch 1974 erschien, sei es so aufgenommen worden, als rufe er damit zum DKP-Beitritt auf, berichtete Timm am Freitagabend in der Berliner Akademie der Künste. Dort gab es eine „Lange Nacht der Literatur“ zum Jahr 1968 und zur Frage was von „Engagement, Politisierung und Gegenöffentlichkeit“ geblieben ist.

Geblieben ist vor allem das Reden übers Engagement, und das ist etwa so aufregend wie ein Museumsbesuch. Doch die Literatur von damals ist immer noch lebendig. Günter Grass, Christa Wolf, Volker Braun, Uwe Timm, Ulrich Peltzer, Tanja Dückers und Raul Zelik trugen Texte aus der 68er-Zeit vor, von Uwe Johnson bis Bernward Vesper, von Peter Huchel bis zu Erich Fried, von Reinhard Lettau bis zu Hubert Fichte. Auf „Engagement“ oder auch nur auf „politische Literatur“ lässt sich diese Vielfalt nicht verkürzen. 1968 steht ja auch für die beginnende Postmoderne, für Drogenexperimente und den Siegeszug des Rock ’n’ Roll. Und nimmt man die Texte aus der DDR dazu – Christa Wolfs „Nachdenken über Christa T.“ etwa, aus dem sie in einer späteren Runde des Abends las – wird vollends klar, dass „Engagement“ nicht unbedingt auf Politik zielen muss. Indem Christa Wolf damals vom Sterben einer Freundin erzählte und so etwas wie subjektive Aufrichtigkeit anstrebte, geriet sie im Land des sozialistischen Realismus ästhetisch und politisch in die Isolation. Das selbstbewusste Individuum war etwas, dem unbedingt zu misstrauen war.

Leider verschenkte die Akademie die Möglichkeit, die unterschiedlichen Bedeutungen von „Engagement“ in Ost und West miteinander in Beziehung zu setzen. Friedrich Dieckmann, Florian Havemann und andere diskutierten für sich über Prag und die Folgen. Eine kleine Ausstellung im Erdgeschoss zeigte, wie viel Mut erforderlich war, um sich den Solidaritätsadressen zum Einmarsch der Warschauer- Pakt-Truppen in Prag zu verweigern. Brigitte Reimann hat es gewagt. Ihr Schweigen war politisch – während das „Engagement“, das all die beflissenen Mitläufer zeigten, bloß opportunistisch war. Auch die Akademie der Künste erklärte damals zynisch, „an der Seite der tschechischen Genossen zu stehen“, und sie bei der „Verwirklichung des in Moskau geschlossenen Abkommens“ zu unterstützen.

„Worte – nichts als Worte. Doch was sonst tun?“ Das Peter Weiss zitierende Motto aus einer handlungssüchtigen Epoche erwies sich als gefährlich. Es schlug auf die Diskutierenden zurück, weil unklar blieb, worüber eigentlich gesprochen werden sollte. Für Günter Grass ist Engagement als demokratische Bürgertugend eine außerliterarische Kategorie. Die Weimarer Republik sei untergegangen, weil es nicht genügend Bürger gab, die sich schützend vor sie stellten. Mit einem Tigersprung landete er dann direkt in der Gegenwart: Die heutige Demokratie sei nicht durch Terroristen und äußere Feinde bedroht, sondern durch Aushöhlung von innen, vor allem durch Lobbyisten, die ja mittlerweile schon an den Gesetzen mitschreiben. „Wir brauchen ein neues 68!“ rief Grass aus.

Raul Zelik plädierte eher hilflos für „mehr Radikalität“, ehe mit Tanja Dückers, die einen Essay über die historischen Stärken von 68 verlas und damit jeden Diskussionsansatz endgültig zunichte machte, das begriffliche Niveau dann restlos versickerte. Aus unerfindlichen Gründen gilt Dückers als politische Autorin der jüngeren Generation. Sie verbreitete Banalitäten wie die, dass Literatur „personalisiere“, dass sie „sinnlich“ sei und damit den Nachrichten „ein Gesicht gebe“. Ein eklatantes Gefälle von Alt zu Jung wurde sichtbar. So war es Grass, der den lebendigsten, klarsten Eindruck hinterließ. Der Unterschied zwischen seiner Generation und denen danach ist einfach: „Uns waren die Themen gestellt. Wir konnten nicht ausweichen“, sagt er.

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