zum Hauptinhalt

Lesestoff: Der große Irrtum

Jürgen Lodemann (Hg.): Der große Irrtum. Die Erinnerungen des NSDAP-Mannes Friedrich Lodemann. Berlin University Press, Berlin 2009. 160 Seiten, 19,90 Euro.

1943 bekommt der NS-Blockleiter Friedrich Lodemann von seinem Ortsgruppenleiter den Auftrag, für die Partei einen „völlig ungeschminkten Bericht“ über die Stimmung im Volk zu schreiben. So schreibt er vertrauensvoll nieder, was ihm als Blockleiter seines Wohnviertels im Ruhrgebiet zu Ohren kommt: Klagen über den „Luxusbunker“ Robert Leys, über Görings Aufschneiderei, über Goebbels loses Liebesleben. In Essen, so berichtet er, habe man uf manchen Kohlenwagen „Hitler verrecke“ lesen können. Das war starker Tobak und brachte dem Verfasser sogleich ein Parteiverfahren wegen seiner „negativen Einstellung“ ein. Er hat Glück, dass das Parteigericht ihm guten Glauben unterstellt und das Verfahren einstellt. So bleibt er bis zum bitteren Ende Mitglied der Partei und muss sich nach Kriegsende erneut rechtfertigen: Diesmal vor einem Entnazifizierungsausschuss mit dem Ergebnis, dass er als „Belasteter“ Arbeitsplatz und Betriebsrente verliert. Den Glauben an die Partei und ihren Führer hat er erst in den letzten Kriegs- und ersten Nachkriegstagen verloren, als er die ganze Wahrheit über die Verbrechen des Nationalsozialismus erfährt. Er braucht 20 Jahre, bis er sich zur vollen Erkenntnis dessen durchringt und niederschreibt, was er seinen doppelten „Großen Irrtum“ nennt: Zum einen habe er bis zuletzt an die Volksgemeinschaft als Überwindung des Klassenkampfes geglaubt, an Hitlers Friedensbeteuerungen, Arbeitsbeschaffung und Wirtschaftspolitik. Zum Zweiten habe er es für völlig undenkbar gehalten, dass die Parolen des Straßenmobs wie „Juda verrecke“ jemals Politik werden könnten. Dieses Bekenntnis schreibt er 1965, „um zu beweisen, dass unser Volk keineswegs ein Volk von Verbrechern war, sondern ein Volk von Betrogenen und Verführten“. Und von Tätern, wie sein Sohn und Herausgeber, der Journalist Jürgen Lodemann mit seinen eingestreuten Zitaten und Kommentaren anmerkt. Dessen eigene Lehre für die neuen Debatten der Enkel und Urenkel bringt er auf den Nenner: „Die Mörder hatten leichtes Spiel, mit Opfergeist und guten Menschen.“ Das stimmt. Die Mörder jedenfalls haben sich nicht geirrt. 

Hannes Schwenger

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false