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ZeitSCHRIFTEN: Mit der Seele in den Tasten wühlen

Gregor Dotzauer über die Entdeckung der künstlichen Intelligenz für das Klavierspiel, Art Tatums Wiederauferstehung und das legendäre Welte-Mignon-Piano

Von Gregor Dotzauer

Mental, so scheint es, sind wir mit unserer Auffassung von künstlerischem Genie keinen Schritt über das 19. Jahrhundert hinausgekommen. Dabei leben wir längst in einer Welt, die einige unserer liebsten Überzeugungen zum Einsturz bringen müsste. Zwar bezweifelt niemand mehr, dass Computer – zumindest theoretisch – besser Schach spielen als Menschen, seit Deep Blue 1996 Garri Kasparow besiegte. Man nimmt die Überlegenheit der Maschine sogar hin, weil man sich damit beruhigt, dass es sich beim Schachspiel um ein streng regelhaftes, geschlossenes System mit einer endlichen Zahl von Bewegungsmöglichkeiten handelt.

Aber wenn John Q. Walker, der Chef der Zenph Studios in North Carolina (zenph.com) ankündigt, er könne jedes Tondokument künstlerischen Klavierspiels anschlagsdynamisch-interpretatorisch identisch im volltönenden Glanz des Yamaha Disklaviers, eines akustisch-digitalen Hybridinstruments, wiedererstehen lassen, macht er sich gleich ein ganzes Heer von Feinden. „Blutleere Imitation“ wirft nicht nur Daniel Ender in der „NZZ“ Walkers computergenerierter „Re-Performance“ von Glenn Goulds 1955 mono eingespielter Fassung der Bach’schen „Goldberg-Variationen“ vor. Und um Walker noch so richtig eins mitzugeben, erklärt er, dass die im letzten Jahr, 24 Jahre nach Goulds Tod, bei Sony veröffentlichte Stereo-Surround-Aufnahme in „ihrem ästhetischen Ergebnis im Grunde sogar noch hinter früheren mechanischen Verfahren auf Walzen und Rollen“ zurückbleibe.

Da spricht auch das Unbehagen, das einen befallen kann, wenn man auf dem Vortragsportal www.ted.org erlebt, mit welcher missionarischen Großspurigkeit Walker auftritt. Träumt er nicht davon, Goulds Non-legato-Geist bald auch in Stücke hineinfahren zu lassen, die dieser nie eingespielt hat? Will er nicht Brahms’ ungeschriebene Walzer aus dem Jenseits retten? Ist er nicht davon besessen, Art Tatum zu neuen Improvisationen aus dem Jazzgrab steigen zu lassen, aus dem bisher nur seine „re-performte“ Platte „Piano Starts Here“ (1949) erklingt?

Was immer man Walker vorwerfen will: Er versucht sich an praktischen Antworten auf die philosophischen Fragen nach der Leistungsfähigkeit künstlicher Intelligenz, die endlich auch in großem Maßstab die Musik erreicht haben. Der Grazer KI-Experte Gerhard Widmer (www.cp.jku.at/people/widmer) oder sein Schüler Werner Goebl (www.ofai.at/~werner.goebl/) tun nichts anderes, wenn sie Interpretationen großer Pianisten auf ihre algorithmischen Strukturen hin untersuchen und diese mit Hilfe eines „Performance worm“ visualisieren: Je nach Tempo und Lautstärke der gespielten Phrasen schlängelt er sich in die eine oder die andere Richtung. Ohne dass sie hoffen, dabei jemals den „Horowitz-Faktor“ zu finden, entdeckt man im Blick auf kleine Takteinheiten doch eine erstaunliche Regelhaftigkeit: Es gibt eine definierbare Art, wie etwa Mitsuko Uchida Mozarts Sonatentext durch immer wieder ähnliche Kontraste verlebendigt.

Was es heißt, eine Komposition interpretierend zu verstehen, entscheidet sich aber nicht allein in Konkurrenz zum Computer. Wie oft trifft man musizierenden Seelensucher, die es wurmt, wenn ein japanischer Kamikaze-Pianist, der von den Wallungswerten deutscher Romantik keine Ahnung haben kann, eindrucksvoller Schubert spielt als sie selbst. Und wie oft ermahnen Klavierlehrer schon ihre kleinsten Schüler zu „Ausdruck“ – als ob das mehr als eine Simulation, eine Herstellung von Effekten sein könnte.

Es lohnt, bei dieser Gelegenheit an die Aufregung um das berühmteste Reproduktionsklavier der Musikgeschichte, das Welte-Mignon-Piano, zu erinnern, auf dessen Notenrollen sich Artur Schnabel, Ferruccio Busoni oder Walter Gieseking verewigten. Peter Hagmann trägt in seiner Untersuchung zum Welte-Mignon-Klavier (www.freidok.uni-freiburg.de/volltexte/608) viele Gedanken zusammen, die heute nur in neuem Kontext auftauchen. „Jene letzten allerfeinsten Differenzierungen, welche die vom Geist, von der Seele gleichsam inspirierte Fingerspitze des Künstlers zu bieten vermag, halten wir bei aller noch so erstaunlichen Übertragung vorläufig doch noch für ausgeschlossen“, monierte Hans Gehrmann 1908 in der „Deutschen Instrumenten-Bau-Zeitung“, „da schließlich bei einem Apparat eine bei aller sonstigen Mannigfaltigkeit doch nur bestimmte Zahl von feststehenden Stärkegraden für die Differenzierung vorgesehen sein kann.“

Vom Yamaha Disklavier könnte er das nicht mehr behaupten. Und was die Inspiration der Fingerspitzen betrifft: Werner Goebls jüngster Aufsatz für „Experimental Brain Research“ beschäftigt sich ganz nüchtern mit den Rückkopplungseffekten zwischen taktilem Empfinden, Schnelligkeit und Genauigkeit des Spiels.

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