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Benito Mussolini

© dpa

Mussolinis Machtergreifung: Von wegen Revolution

Giulia Albanese relativiert in ihrem Buch den Mythos der italienischen Faschisten vom „Marsch auf Rom“. Eine Rezension

Erfolgreiche Revolutionen schaffen sich – und brauchen offenbar – Gründungsmythen, um sich selbst historisch zu überhöhen. Bekannte Beispiele sind die „Erstürmung“ der Bastille während der Französischen und die des Petersburger Winterpalais im Laufe der Russischen Revolution. Letztere Erstürmung fügte, so der britische Historiker Orlando Figes, „dem Palais weniger Schaden zu als in ihrer Nachstellung durch Eisensteins Filmcrew“. Auch eine „wirkliche Erstürmung“ der Bastille habe es nicht gegeben, weiß sogar Wikipedia, „da ihr Kommandant der Aufforderung zur Übergabe nachkam. Zudem saßen hier nur sieben Häftlinge“.

Malaparte glaubte, Hitler werde nie an die Macht kommen

Nicht viel anders verhielt es sich offenbar bei Mussolinis legendärem „Marsch auf Rom“ am 30. Oktober 1922, dem Tag der faschistischen Machtergreifung, die diesen Namen genauso wenig verdient wie die Machtübergabe an Adolf Hitler am 30. Januar 1933. Zu diesem Schluss kommt die italienische Historikerin Giulia Albanese in ihrer materialreichen, auf neue Quellen gestützten Studie zu Vorgeschichte und Ablauf von Mussolinis Staatsstreich, den sie im Untertitel ihres Werk als „die Kapitulation des liberalen Staats vor dem Faschismus“ charakterisiert. Allerdings hat schon Curzio Malaparte in seinem 1932 erschienenen Buch „Der Staatsstreich“, einer vergleichenden Analyse europäischer Revolutionsstrategien der Moderne, darauf hingewiesen, dass Mussolini diesen Sieg eben nicht in einer revolutionären Situation, sondern als gelehriger Schüler Trotzkis durch den taktischen Einsatz gezielter Gewalt errungen hatte. Ironie der Geschichte: Malaparte glaubte aus demselben Grund, Hitler werde es nie zum deutschen Diktator bringen, weil er „das Problem der Eroberung des Staates auf parlamentarische Weise zu lösen“ versuche. Doch Hitler kehrte Mussolinis Taktik mit gleichem Erfolg um, indem er zuerst die parlamentarische Macht eroberte und anschließend die Institutionen des liberalen Staats – Parteien, Gewerkschaften, unabhängige Justiz – mit gezielten Schlägen ausschaltete.

"Kraft" statt Gewalt

Beide Diktatoren beanspruchten für ihren Staatsstreich den Titel einer Revolution, aber auch Mussolinis Machtergreifung war nur eine mit taktischer Gewalt erzwungene Machtübergabe, wie Giulia Albanese detailreich – für deutsche Leser ohne Orts- und Namenskenntnisse oft allzu detailliert – nachweisen kann. Mussolinis Proklamationen waren stets absichtsvoll zweideutig, wenn seine faschistischen Garden, die als Schwarzhemden uniformierten Einheiten, als Überfallkommandos, Streikbrecher und Besetzer von Behörden, Postämtern und Bahnhöfen das Land terrorisierten, aber ihr Chef treuherzig versicherte, „dass wir, anders als im russifizierten Sozialismus geschehen, Gewalt weder zur Doktrin noch zur Kampfmethode erhoben haben“. Auch nach seiner Machtübernahme zog Mussolini es vor, statt von Gewalt von „Kraft“ zu sprechen, mit der jeder, auch der faschistische Staat, seine Autorität behaupten müsse: „Nehmt irgendeiner Regierung die Kraft weg – und hier ist physische Kraft und Waffengewalt gemeint – und lasst ihr nur ihre unsterblichen Prinzipien, so wird diese Regierung der ersten organisierten Gruppe ausgeliefert sein, die entschlossen ist, sie niederzuschlagen. Jetzt macht der Faschismus Schluss mit diesen lebensfeindlichen Theorien. Eine Gruppe oder eine Partei, die an der Macht ist, ist auch verpflichtet, sich stark zu erhalten und sich gegen alle zu verteidigen.“

"Ich habe es mir versagt, haushoch zu gewinnen"

Nach dem gleichen Rezept – das kraftlose liberale Regime Italiens der organisierten „Kraft“ der faschistischen Schwarzhemden auszuliefern – hatte er selbst 1921 und 1922 die Regierung seines Vorgängers Luigi Facta politisch sturmreif geschossen, bis sie am Vorabend des angedrohten Marschs auf Rom vor seinem Ultimatum zur „generellen Abtretung der Staatsmacht“ kapitulierte. Noch zuletzt hatte Facta in einem Telegramm an den König geglaubt, die Armee werde Rom verteidigen, und den Ausnahmezustand erklärt. Die Armee allerdings verhielt sich neutral und verlangte von Mussolini nur ein Bekenntnis zur Monarchie. Warum der König den Ausnahmezustand widerrief oder schon seine Unterzeichnung verweigerte, ist bis heute ungeklärt.

- Giulia Albanese: Mussolinis Marsch auf Rom. Die Kapitulation des liberalen Staates vor dem Faschismus. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2015. 304 Seiten, 39,90 Euro
- Giulia Albanese: Mussolinis Marsch auf Rom. Die Kapitulation des liberalen Staates vor dem Faschismus. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2015. 304 Seiten, 39,90 Euro

© Ferdinand Schöningh

Gelähmt war nicht nur die Exekutive, auch die Führung der Kommunisten, die einen Generalstreik planten, war zu einer Tagung der Komintern nach Moskau abgereist. Während Mussolini aus Mailand herbeieilte, ließ die faschistische Führung den Vormarsch auf Rom stoppen, bis der Duce eingetroffen und zum Ministerpräsidenten ernannt war, nachdem Rechtsliberale und Nationalisten die Seiten gewechselt hatten und mit ihm eine Koalition bildeten. Bei der Amtsübergabe mahnte der König milde, Mussolini solle die Einheiten demobilisieren und nach Hause schicken. Rom war ja noch belagert, auch wenn die Besetzung nur noch „symbolisch“ erfolgte und die 30 000 Besetzer nach wenigen Tagen zugleich triumphierend und enttäuscht wieder abzogen, während ihr Chef im Parlament tönte: „Ich habe es mir versagt, haushoch zu gewinnen, und ich hätte gewinnen können … Ich hätte das Parlament verrammeln und eine Regierung ausschließlich aus Faschisten ernennen können. Ich hätte es können, aber ich habe es nicht, zumindest in dieser ersten Zeit nicht, gewollt.“ Noch nicht.

- Giulia Albanese: Mussolinis Marsch auf Rom. Die Kapitulation des liberalen Staates vor dem Faschismus. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2015. 304 Seiten, 39,90 Euro.

Hannes Schwenger

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