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Obdachlose

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''Nach Bush'': Den Staat in der Badewanne ertränken

Die soziale Ungleichheit in den USA ist das gewollte Ziel konservativer Politik, schreibt Paul Krugman. Was er fordert, wäre in der FDP mehrheitsfähig.

Die soziale Ungleichheit in Amerika ist heute so hoch wie seit den Zeiten des sagenhaften Reichtums der Rockefellers und Carnegies nicht mehr. Auf das reichste Prozent der US-Bevölkerung allein entfallen mittlerweile rund 15 Prozent des gesamten Einkommens. Vor 30 Jahren war es gerade einmal halb so viel. Die soziale Polarisierung lässt sich in Amerika zwar schon seit dem Beginn der 80er Jahre beobachten. Die Kluft zwischen Arm und Reich hat aber mittlerweile ein Ausmaß erreicht, das gerade in diesen Wahlkampfzeiten eine lebendige Diskussion über die „new inequality“, die neue Ungleichheit, ausgelöst hat. Der jüngste Beitrag zu dieser Debatte stammt von Paul Krugman, dem linksliberalen Starökonom aus Princeton. Er argumentiert in seinem neuen Buch „Nach Bush“, dass fast alles, was nicht stimmt im heutigen Amerika, mit eben jener ausufernden sozialen Ungleichheit zu tun hat.

Freund und Feind stimmen überein, dass Paul Krugman nicht irgendein Ökonom ist, sondern einer der Fähigsten seiner Generation, der lange als heißer Kandidat für den Wirtschaftsnobelpreis galt – bevor ihn seine Tätigkeit als wirtschaftspolitischer Kolumnist der „New York Times“ in die Niederungen der politischen Grabenkämpfe geführt hat. Krugmans neues Buch heißt im Original „The Conscience of a Liberal“. In der wörtlichen Übersetzung, „Das Gewissen eines Liberalen“, klingt das eher nach einem Geleitwort zum FDP-Parteitag und nicht nach dem Versuch, das Erbe des sozialdemokratischen 20. Jahrhunderts ins Amerika des 21. Jahrhunderts zu retten. Aber auch „Nach Bush“ trifft den Kern des Buches nicht, denn zwei Drittel des Buches beschäftigen sich mit der Zeit vor Bush und der Geschichte der amerikanischen Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Erst ganz am Ende stellt uns Krugman seine politischen Ideen für die Zeit nach Bush vor. Diese Ideen sind nicht gerade überraschend, werden aber in Deutschland viel Kopfnicken ernten, allen voran die Idee der Einführung einer umfassenden Krankenversicherung nach europäischem Muster.

Doch der Reihe nach. Denn „Nach Bush“ ist in erster Linie ein Buch über die Zeit bis Bush, in dessen Mittelpunkt die gesellschaftliche Polarisierung zwischen Arm und Reich steht – gleichsam als Brennglas gesellschaftlicher und ökonomischer (Fehl-)Entwicklungen in den letzten Jahrzehnten. Es verwundert nicht, dass Krugman den Anstieg der sozialen Ungleichheit nicht als ein Produkt von Globalisierung und technologischem Wandel sieht – wie es die Mehrheit seiner Fachkollegen tut. Wenn, so fragt er zu Recht, Globalisierung und technologischer Wandel die wachsenden Einkommensunterschiede verursachen, warum beobachten wir dann nicht einen vergleichbar starken Anstieg in Europa?

Für Krugman steht fest, dass letztlich politische Entscheidungen den Ausschlag gaben. Die soziale Polarisierung ist für ihn keine ökonomische Notwendigkeit, sondern das bewusste Produkt einer radikalkonservativen Politik, deren Wurzeln in den späten 50er und frühen 60er Jahren liegen. Deren Ziel: die sozialpolitische Uhr in die Zeit vor dem „New Deal“ und dem Aufbau sozialstaatlicher Strukturen nach dem Zweiten Weltkrieg zurückzudrehen. Krugman zeichnet die Reihe jener sozialstaatsfeindlichen neokonservativen Agitatoren nach, die von Barry Goldwater über Ronald Reagan bis hin zu Dick Cheney und George W. Bush reicht.

Im Mittelpunkt dieses konservativen Programms stand es, die Institutionen zu beseitigen, welche die Angleichung der Einkommen in der Nachkriegszeit ermöglicht haben – insbesondere gewerkschaftliche Organisationen und staatliche Umverteilungsprogramme auf der Grundlage einer progressiven Besteuerung der Einkommen. Man müsse den Staat so zusammenschrumpfen, dass man ihn in der Badewanne ertränken kann, heißt es in einem der von Krugman zitierten neokonservativen Pamphlete.

Krugman verortet die Ursprünge dieser „neokonservativen Bewegung“ in einer weißen Gegenreaktion auf die schwarze Bürgerrechtsbewegung nach dem Krieg, deren wichtigstes Ziel es war, Einkommensumverteilung durch den Staat zugunsten sozial Schwacher (sprich: vor allem der schwarzen Bevölkerung) zu verhindern. Krugman provoziert bewusst, indem er argumentiert, dass diese konservative Gegenreformation gegen den „New Deal“ und den Sozialstaat in Amerika quasirassistische Motive und ökonomische Interessen wohlhabender weißer Bevölkerungsschichten vereint hat. Sein Fazit lautet, dass republikanische Präsidenten wie Reagan und Bush junior mit einer marktfundamentalistischen Politik Amerika bewusst in eine soziale Ungleichheit geführt haben, die das Ideal einer gemäßigten Mittelschichtsgesellschaft untergraben hat und mitverantwortlich für die politische Polarisierung des Landes ist.

Die Analyse ist in vielen Punkten durchaus bedenkenswert, wenn auch nicht immer neu. So ist es ein altbekanntes Argument, dass Amerika deshalb keinen Sozialstaat und keine Arbeiterbewegung nach europäischem Muster kennt, weil es ethnisch heterogener ist. Auch die zeitliche Koinzidenz von schwarzer Bürgerrechtsbewegung und dem Wiederaufleben marktliberaler Ideen in den 60er Jahren ist alles andere als ein Beweis für rassistische Motive neoliberaler Wirtschaftspolitiker in den USA. Aber obwohl Krugman mehr Zeit darauf verwendet, Marktversagen zu diskutieren, als Staatsversagen und wohlfahrtsstaatliche Ineffizienz in Betracht zu ziehen, wird derjenige, der radikale Vorschläge erwartet, eher enttäuscht werden. Denn was Krugman am Ende aller Kritik fordert, ist in weiten Bereichen ein Mindestprogramm sozialer Teilhabe und Absicherung, das in Amerika kontrovers sein mag, in Deutschland aber auch in der FDP Mehrheiten finden könnte.

Die Stärke des Buches liegt darin, dass Krugman mit sicherer Hand eines der auffälligsten Phänomene unserer Zeit in den Mittelpunkt stellt: den rasanten Anstieg der sozialen Ungleichheit in den angelsächsischen Gesellschaften in den letzten zwei Jahrzehnten. Und er betont zu Recht den Einfluss politischer Faktoren und Entwicklungen gegenüber anonymen Kräften wie der Globalisierung und technologischem Wandel. Aber trotz aller Kritik an Managementgehältern und Steuerbetrügern hierzulande ist „Nach Bush“ eigentlich kein Buch für die deutsche oder auch die kontinentaleuropäische Öffentlichkeit. Im Gegenteil, manchmal denkt man, dass für Europa gerade jene Aspekte der amerikanischen Debatte über die Ungleichheit interessant gewesen wären, die Krugman ausklammert.

So hätte man gerne aus seiner Feder gelesen, wie zu erklären ist, dass in den letzten zwei Jahrzehnten das Wirtschaftswachstum in jenen Gesellschaften höher war, in denen die Ungleichheit stärker zugenommen hat. Woher kommt dieser positive Zusammenhang zwischen Wachstum und Ungleichheit? Sind es die gleichen Institutionen, die zwar den sozialen Status quo in Europa erhalten, aber Innovation, Eigeninitiative und wirtschaftliche Dynamik behindert haben? Steht Europa vor der Wahl, den „Verteilungskuchen“ nur noch um den Preis größerer Gegensätze zwischen Arm und Reich wachsen zu sehen – entgegen dem alten Ideal der sozialen Marktwirtschaft, das keinen Zielkonflikt zwischen Wachstum und sozialer Gerechtigkeit vorsah? Wäre es gerecht, das Wachstum im Namen der Bewahrung sozialer Gerechtigkeit niedriger zu halten, als es sein könnte?

Krugman hat es leichter, über die Notwendigkeit der Reduzierung der Ungleichheit in einem Land zu schreiben, das im letzten Jahrzehnt durchschnittliche Wachstumsraten von über drei Prozent aufwies und dessen ökonomische Realität von der schöpferischen Dynamik der Googles und Oracles dieser Welt gezeichnet war – und nicht von der mitunter bürokratischen Starre eines ausufernden Wohlfahrtsstaates und seiner Sozialneiddiskurse. Die Zahlen zeigen, dass Deutschland (wie weite Teile Kontinentaleuropas) jene soziale Polarisierung, die Krugman in den USA beklagt, eben nicht mitgemacht hat. Aber Europa hat eben auch keine den USA vergleichbare wirtschaftliche Dynamik und wissenschaftliche Innovationskraft hervorgebracht. Antworten auf diese weitaus schwierigeren Fragen bleibt uns Paul Krugman leider schuldig.

Der Autor ist Professor für Volkswirtschaftspolitik und Wirtschaftsgeschichte an der Freien Universität Berlin.



Paul Krugman: Nach Bush. Das Ende der Neokonservativen und die Stunde der Demokraten. Campus Verlag, Frankfurt am Main/New York 2008. 320 Seiten, 24,90 Euro.

Moritz Schularick

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