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Neue Erzählungen: A.L. Kennedy: Ekzeme lügen nicht

A.L. Kennedys Geschichten leben von den ungewöhnlichsten Phantasien: Selbstbefriedigung im Weltall. Flirts mit nekrophilen Bigamisten. Heimlicher Sex im Bett des Untermieters.

Von Gregor Dotzauer

Einer dieser Sätze, unauffällig eingestreut: "An den Knöcheln brach Howie der Schweiß aus." Es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass viele Menschen wissen, wie es ist, wenn einem an den Knöcheln der Schweiß ausbricht. Aber allein sich vorzustellen, wie sich da etwas unterm Hosenbein in Richtung Schuhwerk ausbreitet, bis die Füße pitschnass sind, hat etwas so Beängstigendes, dass die außergewöhnliche Situation, in die Howie auf der Herrentoilette seiner Kanzlei geraten ist, gleich doppelt einleuchtet. Man wird wird nicht alle Tage von einem verheirateten Kollegen so angefasst, dass man einerseits von Glücksgefühlen buchstäblich übermannt wird, sich andererseits einreden muss: "Ich sehe nicht schwul aus. Ich benehme mich nicht schwul. Ich sage nie, dass ich schwul bin." Deswegen steht der Satz "An den Knöcheln brach Howie der Schweiß aus" in der Titelstory von A. L. Kennedys Erzählsammlung "Ein makelloser Mann" so unwiderlegbar da: ganz und gar ausgedacht, aber gerade durch das Unwahrscheinliche plausibel.

Die Geschichten der schottischen Autorin leben von den ungewöhnlichsten Phantasien: Selbstbefriedigung im Weltall. Flirts mit nekrophilen Bigamisten. Heimlicher Sex im Bett des Untermieters. Und A. L. Kennedy spinnt all diese Phantasien aus bis zu dem Punkt, wo die konkreten Umstände, die Wirkungen und Folgen, ein Maß an Realität gewinnen, die den absurdesten Rahmen aushalten. Ob der Astronaut in "Over und aus" in der Schwerelosigkeit die Spuren seines Tuns einsammelt oder der Untermieter in "Zucker zerschlagen" der enttarnten Ehefrau sein eigenes Geheimnis offenbart und mit ihr im Dunkeln Zuckerkristalle unterm Hammer aufblitzen lässt.

Das ist durchweg bigger than life, erst recht auf der mikroskopischen Ebene, die Kennedy im Blick hat, dort, wo es zwischen Magen, Rückenmark und Lenden durchs psychosomatische Sehnsuchtsgebälk zuckt und zieht. Aber vor allem ist es befremdlicher, nicht auf Anhieb wiederzuerkennen. Und man kann sich fragen: Warum fesseln, nein: berühren einen diese aus winzigen Motiven entfalteten Geschichten eigentlich, wo sie selbst die unmittelbare Lebenswelt nicht besonders zu berühren scheinen? Und: Möchte man tatsächlich, dass einem zustößt, was ihre wenig heldenhaften, oft bitter gedemütigten Figuren erleben?

Einfache Illusionsliteratur sieht anders aus, schon weil die erzählerische Ausstattung die realistische Anmutung Lügen straft. Kennedys Figuren sind oft nicht einmal fest umrissene Charaktere. Sie haben Namen, manchmal auch Berufe, im Wesentlichen aber sind sie libidinöse Aggregatzustände. Sie bestehen aus kursiv gesetzten Begehrensströmen, die im inneren Monolog dem Dialogpingpong an der Oberfläche zuwiderlaufen, oder entwerfen in erlebter Rede Strategien für den Nahkampf mit dem Partner.

Sexually explicit, wie Kennedy schreibt, unterlaufen ihre Erzählungen die Trennung von Leib und Seele, indem sie die taktilen Bedürfnisse von Körpern als Symptom betrachtet. Bühne frei für alles, was sich seinen Weg hindurch bahnt: Ekzeme lügen nicht; wer traut süßen Worten. So wird jeder ihrer Testosteron-Junkies Teil von Liebesgeschichten, die auch vor letzten Dingen nicht haltmachen. Am Ende von "Grouchos Schnauzer" liegt die zuvor lustvoll auf Betrüger abonnierte Protagonistin mit einem Mann im Bett, der zum ersten Mal ganz ehrlich zu ihr ist: ein Leichenwäscher, der sich nicht nur zu seinem Job bekennt, sondern sich auch sonst seine Gedanken macht: "Ich will dir sagen, dass das, was du gerade berührt hast, nicht so bleiben wird. Und was ich berührt habe, auch nicht. Das wird vergehen - ich habe es vergehen sehen."

Kennedy ist eine Meisterin darin, einfache Dinge in einen aufregend neuen Zusammenhang zu bringen. Und wo auf dem dem hinteren Buchumschlag zum werweißwievielten Mal die "tragikomische Koexistenz der Geschlechter" beschworen wird, fliegt ihr ein originelles Exempel nach dem anderen zu, etwa wenn es heißt: "Sie kannte sich gut in Nicks Denken aus und wusste, dass es ein sympathisches Denken war, aber ganz bestimmt nicht ihres - nicht einmal annähernd." Oder sie lässt den Protagonisten von "Verschont" die Freuden des Einkaufens entdecken, als er im Käsefachgeschäft der Frau seines Lebens begegnet, wohingegen dasselbe mit der Ehefrau eine mühselige Angelegenheit sein muss: "Einkaufen war mit Karen auch nicht gerade aufregend: Es war genau wie alleine einkaufen, nur langsamer und teurer." Von solch kleinen Bosheiten ist es für A. L. Kennedy nicht weit zu offenen Gewaltphantasien, die unmittelbar neben der größten Zuneigung existieren: "Rockaway" erzählt von einer Frau, die sich wiederholt vorstellt, ihrem allzu perfekten Liebhaber einen Bleistift ins Ohr zu stechen.

Sechs der ingesamt zehn Erzählungen sind die Reste der vier Jahre alten Sammlung "Original Bliss", deren umfangreiche Titelgeschichte A. L. Kennedy unter dem Namen "Gleißendes Glück" im letzten Herbst auf Anhieb einen Riesenerfolg in Deutschland bescherte. Man kann die Storys nicht in einem Zug lesen, weil einem sonst schwindlig wird vor lauter Paarbeziehungen. Doch maßvoll genossen, zeigen sie die Kunst der A. L. Kennedy in immer neuen Wendungen.

Wie sie einmal angefangen hat, kann man nun auch lesen und den Weg ermessen, den sie zurückgelegt hat. "Einladung zum Tanz" (Looking for the Possible Dance) ist - nach Kennedys noch unübersetztem Storyband "Night Geometry And The Garscadden Trains" - das Romandebüt der 28-jährigen aus dem Jahr 1993: ein Buch, das auf gut 300 Seiten vieles von dem ausbreitet, was sie heute in einem Absatz mal eben skizziert. Und doch hat der Roman, in seiner leisen Bosheit, mit der Kritik am Thatcherismus, seiner Zuneigung zu den im Verhältnis opulent gezeichneten Figuren und dem Sinn für Absurditäten und Verzweiflungszustände, seinen eigenen Reiz. Und er enthält eine der erschütterndsten Szenen, die A. L. Kennedy jemals geschrieben hat: eine Folterung zu Mozartklängen, in der sich ihre ganze, Härte wie Gnade einschließende Radikalität spiegelt.

"Einladung zum Tanz" ist wie die Erzählungen aus einem Minimum an Stoff gemacht. Der Roman erzählt von Margaret Hamilton, einer Knall auf Fall gekündigten Sozialarbeiterin in der "Fun Factory", einem Haus für benachteiligte Jugendliche. Sie ist unterwegs nach London, um ihr Leben Revue passieren zu lassen, die Liebe zu ihrem Freund Colin, die enge Bindung an ihren Vater und die Intrige ihres Chefs, der sie zum Opfer gefallen ist.

Männlich? Weiblich? Unsinn!

Wenn man der Diskussion um weibliches und männliches Schreiben, die A. L. Kennedy selbst für Unsinn hält, überhaupt eine Bedeutung verleihen kann, dann am ehesten mit diesem Buch, das eindeutig von einer Frau stammt. Die Erzählungen dagegen sind aus keiner erkennbaren Geschlechterperspektive geschrieben - nur aus einer tiefen Kenntnis einer bestimmten Art männlichen Denkens. Mit einem androgynen Wesen, sagt sie, habe das nichts zu tun, und wehrt sich auf ihrer Website mit Witz und Nachdruck gegen die Unterstellung, sie habe so etwas mit dem Abkürzen ihres Vornamens Alison Louise betonen wollen.

A. L. Kennedy hat ein bewundernswertes Gespür dafür, wie kompliziert die Verhältnisse zwischen Männern und Frauen sein können. Zugleich lässt sie keinen Zweifel daran, dass es sich um einfache, primitive, archaische Konstellationen handelt. Diese doppelte Wahrnehmung macht ihre unverwechselbare Größe aus.

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