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© The NewYorkTimes/Redux/laif

Nicholson Baker: Speed ist nicht zu empfehlen

Das Buch zappelt zwischen Roman und Essay. "Der Anthologist": Nicholson Bakers prosaische Hommage an die Poesie.

Mindestens drei Dinge zeichnen den Autor Nicholson Baker aus: der immer wieder verwendete „stream of consciousness“, der innere Monolog; das Spiel mit Genregrenzen vor allem zwischen Roman und Essay, sowie seine manchmal nervtötende Detailversessenheit. Bakers zuletzt erschienenes Werk „Menschenrauch – Wie der Zweite Weltkrieg begann und die Zivilisation endete“ ist ein Sachbuch, das sich an der Grenze zur Fiktion bewegt. Der Versuch, einen Ich-Erzähler einzuführen, so verriet der Autor in einem Interview, sei gescheitert, aber die Entscheidungen, wohin seine Texte letztlich tendieren, fielen bei ihm immer knapp aus.

„Der Anthologist“ ist scheinbar eindeutig ein Roman. Es gibt, wie oft bei Baker, einen monologisierenden Helden, den Lyriker und Herausgeber Paul Chowder, der sich gar nicht heldenhaft mit dem Vorwort zu einer Anthologie gereimter Gedichte herumplagt.

Es gibt Nebenfiguren und einen unterschwellig dahinfließenden Plot: Chowder ist von seiner Freundin Rosslyn verlassen worden, weil er „nicht schreibt“. Ein Warnschuss ihrerseits, an dem er über 250 Seiten hinweg arg zu kauen hat, denn Rosslyn ist, je abwesender, desto präsenter. Und: Er will sie wieder, er sehnt sich nach ihr. Einmal sagt er es ihr auch.

Chowders vertrackte Lage ist nur das Gerüst des Romans; das Fleisch jedoch sind seine essayistischen Passagen, die implantierten Poetikvorlesungen gleichen. Wenn Paul nicht an Rosslyn denkt und ihm auch seine attraktive Nachbarin Nan nicht über den Weg läuft, kann er endlos über englischsprachige Lyrik monologisieren: „Vier Takte pro Zeile. Das ist der klassische Rhythmus von Poesie wie von Popsongs“, ist Chowder überzeugt. Wer als Leser nicht mit im Takt klopfen möchte, sollte die allzu sehr von einem seminaristischen Furor getragenen Passagen einfach überblättern.

Chowders Stimme ist getragen vom leidenschaftlichen, manchmal auch leidenden Gestus eines die Poesie aufrichtig liebenden Literaturdozenten. Man sieht ihn förmlich vor der versammelten Studentenschaft stehen und im Plauderton seine Verteidigung der Poesie vortragen. In Wirklichkeit aber hat Chowder den akademischen Betrieb nach nur einem Jahr verlassen und sitzt nun die meiste Zeit auf dem Heuboden oder in einem weißen Plastikstuhl vor seinem Haus, beobachtet eine Maus oder sinniert über das tragische Moment im Leben vieler Dichter. Dass ihr Unglück sie kreativ mache, ist eine arg abgegriffene These unseres Helden, der sich auch fragt, warum er sich immer wieder selbst ungewollt kleine Verletzungen zufügt. Warum hat Nicholson Baker sein Buch nicht als Essay, sondern als Roman verfasst?

Eine Antwort könnte die Passage über Elizabeth Bishops berühmtes Gedicht „Der Fisch“ liefern. Nachdem der tödlichen Sauerstoff atmende Fisch von der Dichterin bis hin zum „Mechanismus seiner Kiefern“ beschrieben worden ist, kommt Bishop auf die „fünf gerissenen Angelschnüre“ zu sprechen.

Beeindruckend, wie Baker seinen Protagonisten die allegorische Bedeutung dieser Bilder für uns entwirren lässt: „Was sind das für Stränge? Die der Poesie. Denn wir ahnen, dass vor ihr schon andere angehende Dichter diesen sehr alten, realen Fisch gefangen haben. Ihre Schnüre sind da, verhakt im Fischmaul, die vielen früheren Versuche, diesen alten Fisch im Gedicht zu reimen.“ Bishop reimt jedoch nicht, sie erzählt uns in lapidarem Tonfall von dem Fisch – bis zu dem Punkt, wo sie ihn loslässt und er ins Meer zurückschnellt.

Nicht anders Bakers Blick auf die Poesie. Es ist der Blick eines wahrhaft Verliebten. Irgendwann muss man loslassen und, so denkt auch Paul Chowder endlich, „wieder in der Realität auftauchen“. Nicholson Baker, so scheint es, konnte diesen Text weder als lupenreinen Essay noch als waschechten Roman verfassen, er musste ihn hin- und herzappeln lassen wie der Angler an der Angel den Fisch. Die Reflexionen Chowders werden immer wieder von meist nur einem in die Alltagsrealität unseres Helden zurückverweisenden Satz unterbrochen.

Gerade noch hat dieser über die Alkoholabhängigkeit des Dichters W. H. Auden und über das Leiden an sich sinniert, da kommt auch schon die überraschende Wendung: „Speed ist also nicht zu empfehlen. Leid ist zu empfehlen. Man muss leiden, um als Mitmensch anderen Menschen helfen zu können, Leid zu verstehen. Ich habe eine Maus in der Küche.“

Vielleicht war Nicholson Baker die vielen trockenen Fachbücher zum Thema leid. Er wollte, mit etwas mehr Esprit als üblich, dem Gedicht einmal richtig auf den Zahn fühlen. „Der Anthologist“ ist eine perfekte Charmeoffensive gegen jeden matten Lyrikverführer und jede Verslehre; und Chowders Monologisieren fast eine Pioniertat in defense of poetry. Dass der 1957 in New York geborene Nicholson Baker, der heute in South Berwick/Maine lebt, auch einmal an der renommierten Eastman School of Music studiert hat, bevor er auf englische Literatur umsattelte, mag sein ausgefeiltes Interesse für Reim, Rhythmus und Metrik erklären, sein „metrisches Ohr“.

Irgendwann im letzten Drittel des Buches geht Paul Chowder in eine Perlenhandlung, um für Rosslyn eine Kette basteln zu können, „nicht als Erpressungs-, sondern schlicht als Freundschaftsgeschenk“: „Es erinnert insofern ans Dichten, als man kleine, unteilbare Elemente in wechselndem Rhytmus aneinanderreiht. Die Natur einer einzelnen Perle lässt sich so wenig verändern wie ein Wort, aber welche Perle man wählt, steht einem frei, und ebenso die Reihung, das Muster.“

Ob Rosslyn am Ende zu ihm zurückkehrt, lässt der Erzähler offen. Es ist auch nicht wichtig. Er schreibt wieder, sogar Gedichte. Und es gibt „Laubspiegelungen auf der Windschutzscheibe“. Das ist nur eine jener Epiphanien, die den Blick freimachen auf das Poetische, „jenen besonderen Augenblick eines Tages“.

Nicholson Baker: Der Anthologist.

Roman. Aus dem

Amerikanischen von Mathias Göritz und Uda Strätling.

Verlag C.H. Beck,

München 2010.

256 Seiten, 19,95 €.

Volker Sielaff

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