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Poesiefestival: Das Salzlicht der Karibik

Nobelpreisträger Derek Walcott sucht nach dem "Verlorenen Sohn" – und eröffnet das Berliner Poesiefestival.

Der Schnee nimmt der Welt ihre Nuancen. Was bleibt, ist eine frostige Landschaft geometrisch klarer Konturen, in der die Macht der Zeit aufgehoben scheint. Um wie viel mehr noch zeigt der Blick aus dem Flugzeug dieses „Paradies aus Eis und Tarnung“, die Schrunden und Spalten der Alpen. Ein Element, das nur sich selbst kennt, kalt und still wie das Nichts. Doch der Schreibende sieht noch etwas anderes: „Sie waren vollkommen, / diese Berge, Gipfel der Kälte und des Entsetzens, / diese Felsen mit Eiszapfenbärten, Gletscherspalten / aus Andersens ,Eisjungfrau', Whittiers ,Snow-Bound'“.

In Derek Walcotts Gedichten sind die Bilder durchlässig. Noch die unscheinbarste Beschreibung kann sich als Zitat entpuppen. Wahrnehmung und kulturelles Gedächtnis gleiten ineinander, Landschaft wird zum Gelände aus Stimmen oder aus Anspielungen auf die Bildende Kunst. Es ist eine Mischung aus europäischer und angloamerikanischer Kultur, die Walcott für seine Verse nutzt, eine geistige Sphäre, die er gerne als „alte Welt“ bezeichnet. Doch mit ihren kalten Standbildern und ihrer erstarrten Rhetorik rückt diese Welt bisweilen gefährlich nah an die große „Historie“, an jenes Geflecht aus Zeitläuften, Orten und Daten, das zwar hilft, die Welt ein wenig zu ordnen, das aber all die vermeintlich kleinen Kulturen und individuellen Erzählungen in der Hintergrund drängt.

Diesen Geschichten vom Rande weiß sich Walcott von jeher verbunden. Seine Kindheit hat er auf der Antillen-Insel St. Lucia verbracht. „I have Dutch, nigger and English in me“ sagt Walcott und verweist auf die koloniale Vergangenheit von St. Lucia. Die Atmosphäre hat er einmal als die „Realität des Lichtes, der Arbeit, des Überlebens“ beschrieben. Obwohl er die Insel in jungen Jahren verließ, um zu studieren und die westliche Welt zu bereisen, blieb die karibische Heimat stets der Fluchtpunkt des Schreibens. Seine Aufgabe sieht er darin, „das Salzlicht der Insel zu bewahren“ und den „Dialekt des Gebüschs in der Trockenzeit“. Heute wohnt er wieder auf St. Lucia.

So ist es nur konsequent, wenn er sein jüngstes Langgedicht an das Gleichnis vom verlorenen Sohn anlehnt. Wie so oft schickt er ein lyrisches Ich auf die Reise, das wie ein Schatten seines Autors wirkt. Mit weit ausgreifender Stimme spricht dieses Ich von seinen Erlebnissen in den Städten der Welt – kaum ein Kulturkreis, der nicht Erwähnung fände. Auf dem Flug über die Alpen jedoch, beim Anblick der kalten Kraft des Schnees, seiner genauen Gegenwelt, wird es auf sich selbst und das Altern zurückgeworfen. Mit der Einsicht in die Vergänglichkeit verknüpft sich bald eine fast barocke Klage über die Nichtigkeit des eigenen Strebens.

Doch nichts wäre Walcott ferner als eine einfache Gegenübersetzung von Vergangenheit und Gegenwart, Heimat und Fremde. So wie sich in seinen Versen Wahrnehmungen, Reflexionen, Erinnertes und Bilder durchdringen, vermischen sich auch die Schichten von Zeit und Raum. Kaum hat sich der Leser an die Farbe des Schnees gewöhnt, schon wird er in die Toskana geführt oder landet in St. Lucia. Dazu lässt Walcott sein lyrisches Ich bisweilen in der dritten Person über sich sprechen. Es ist ein Ich, das die Welt feiern kann, als sei es den Gesängen Walt Whitmans entsprungen. Nur dass bei Walcott die Kehre nie lange auf sich warten lässt: „Auf der ständigen Suche nach einem anderen Stoff / als deinem eigenen Ich, triffst du auf dich. / Ein alter Mann, der an schlohweiße Berge denkt.“

Seine Heimkehr des verlorenen Sohnes hat Walcott, der Nobelpreisträger von 1992, motivisch dicht mit früheren Büchern verwoben. Ob es ein Flugzeug ist, das sich wie ein „Silberfisch“ durch die Wolken bohrt, oder die Landschaft einem Gebilde aus „Strophen“ und „Versen“ ähnelt – die Bilder und Vergleiche verweisen auf die ersten Bände ebenso wie auf das Großgedicht „Omeros“, das beim Berliner Poesiefestival jetzt zum ersten Mal auf eine Bühne kommt. Wenn Walcott die „wühlende Vegetation“ seiner Insel beschreibt und die Libellen St. Lucias auf die Hornissen aus seinem Poem „Mittsommer“ (1984) treffen, zeigen seine Verse eine sinnliche Kraft, durch die das Vergangene in all seinen Feinheiten aufscheint und doch nichts ist als „blaue Luft“.

Es dürfte für einen Übersetzer kaum Schwierigeres geben, als Walcotts klanggesättigtes, rhythmisch so wendiges Englisch zu übertragen. Daniel Göskes Versuch, die innere Spannung der Verse zu erhalten, hat seinen Charme, ist jedoch mit Ungenauigkeiten erkauft. Bei so viel Pflanzenmetaphorik mögen Stilblüten wie „eiskremige Mauern“ noch hingehen. Es gibt aber auch Stellen, an denen die zeitlichen Bezüge falsch gesetzt sind und die Zuordnung der Fälle nicht stimmt. Schöner sind lautbewusste Szenen, die etwas spürbar machen vom „wachsenden Sonnenlicht“ und den „wilden Seelchen“ der Vögel. Hier hat sich Göske an jene Maxime gehalten, die Walcotts Schreiben durchzieht: „Behandle jeden Fleck / als wäre er gerade erschaffen, schon alt, / doch wieder neu durch die Benennung.“

Derek Walcott, 1930 in Castries auf St. Lucia geboren, ist die berühmteste Stimme bei der Weltklang-Nacht der Poesie, die am kommenden Samstag um 20 Uhr auf der Freilichtbühne im Volkspark Friedrichshain das bis zum 1. Juli dauernde Berliner

Poesiefestival eröffnet.

Er liest dabei aus seinem hier vorgestellten Langgedicht Der verlorene Sohn (Hanser Verlag, München 2007. 216 Seiten, 17,90 €). Mit ihm treten unter anderem auf: Breyten Breytenbach aus Südafrika, Fuad Rifka aus dem Libanon, Michael Lentz aus Deutschland und Hélène Dorion aus Montréal, die den Schwerpunkt Québec und

Kanada vertritt.

Am Sonntag, den 1.7., führt Walcott um 18.30 Uhr ein Poesiegespräch in der Literaturwerkstatt. Um 20 Uhr wird

im Kesselhaus der Kulturbrauerei sein Langpoem Omeros mit Schauspielern, Tänzern und Sängern aufgeführt. Informationen unter www.literaturwerkstatt.org

Nico Bleutge

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