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Politik muss mit dem Verstand betrieben werden: Vernunft und Moral

Julian Nida-Rümelin sorgt sich um die liberale Demokratie und weist einen Weg zur Besserung.

Sorgenvoll blicken Publizistik und Wissenschaft auf die liberale Demokratie. Das Wurzelwerk aus Freiheit, Gleichheit und Wohlstand scheint in der weltweiten politischen Praxis zu erodieren. So düpiert China die liberal-demokratische Idee mit Wirtschaftswachstum ohne individuelle Freiheitsrechte. In Europa erschüttern rechtspopulistische Kräfte die Parteiensysteme: Das Polemisieren gegen eine selbstbezogene Elite fruchtet zulasten linker und konservativer Volksparteien als einst dynamischer Gegenspieler.

Mit seiner jüngsten Publikation über die gefährdete Rationalität der Demokratie ergänzt Julian Nida-Rümelin den Kanon der Sorgenvollen, ohne in den Abgesang auf die liberale Demokratie einzustimmen. Ursachen für ihre Krise erkennt der Münchner Philosophieprofessor und frühere Kulturstaatsminister unter Kanzler Schröder zuvörderst in der mangelnden Differenz der Parteien des gemäßigten Spektrums sowie im sozialdemokratischen Sturz ins Bodenlose.

Direkte Demokratie hilft nicht

Die üblicherweise genannten Heilmittel verwirft er: Weder die Einführung direktdemokratischer Elemente noch Formen der digitalen „liquid democracy“ überzeugen ihn. Wie er anhand ökonomischer Theorien kollektiver Entscheidung erhellt, ist die Aggregation von Einzelmeinungen zu einem Ganzen logisch unmöglich. Auch ein linker Populismus nützt der liberalen Demokratie nicht: Statt der Emotion im politischen Streit mehr Raum zu gewähren, wirbt Nida-Rümelin für das (Wieder-)Entdecken der Vernunft.

Ausgangspunkt seiner Argumentation ist das Bild des mündigen Bürgers. Dieser handelt mitnichten nur im Eigeninteresse: Wer in die Öffentlichkeit tritt, will klären, was für die politische Gemeinschaft gut ist. Sobald eine Entscheidung getroffen ist, erlischt die Deliberation. Wer weiterdiskutiert, handelt demnach – im krassen Kontrast zum konfliktiven Demokratieverständnis – unpolitisch. Gesellschaft gründet für den Autor nicht auf Disput, sondern auf Kooperation. Wie der Wunsch nach gemeinsamem Handeln bereits in der Natur des Menschen angelegt ist, fußt seine Würde in Rationalität, Freiheitsstreben und Verantwortungsbewusstsein.

Die Krise der SPD

Anstatt die Wählerschaft als emotionsgetrieben und irrational zu brandmarken, müssen die Parteien – besonders die SPD – nach Gründen für die Abkehr ihrer Unterstützer suchen: Warum überzeugen die Ideen zur Verbesserung der Lebensbedingungen nicht mehr?

Seit den 1970ern erobert die obere Bildungsschicht die SPD. Die sozialdemokratische Strategie gegen Ungerechtigkeit besteht seither in Bildungsinitiativen, die auf die Akademisierung der Bevölkerung zielen. Das Gestalten von Arbeitsbedingungen der vormaligen Kernwählerschaft sowie Umverteilungskonflikte geraten aus dem Blick. Das Pochen auf den Universitätsabschluss mündet indes in die Abwertung handwerklich-technischer, sozialer oder kaufmännischer Berufe. Statt Stolz vermittelt die SPD ihrer einstigen Kernwählerschaft das Gefühl von Perspektivlosigkeit.

Zuversicht trotz vieler Mängel

Wie Nida-Rümelin einräumt, ist die liberale Demokratie von einer prachtvollen Blüte entfernt. Dennoch streut er Zuversicht: Ihre Institutionen, ihr Beharren auf die Vernunft und die Teilhabe mündiger Bürger bilden einen kräftigen Stamm. Damit er wieder Knospen treiben kann, fordert Nida-Rümelin eine Politik des sozialen Ausgleichs, der Gerechtigkeit und der Verantwortung auf nationaler wie globaler Ebene. Eine solche „Weltsozialpolitik“ verbindet ökonomische Dynamik und politische Gerechtigkeit zum Wohle aller und dient zuvörderst den am schlechtesten gestellten Gruppen der Weltbevölkerung. Dieser Kosmopolitismus ist komplementär zur nationalen Staatlichkeit – er ersetzt sie nicht.

Weitgehend niedrigschwellig, freilich in der Tendenz dozierend untermauert der Autor seine Thesen mit Streifzügen durch die wechselvolle Geschichte des 20. Jahrhunderts. Verweise auf ideengeschichtliche Klassiker wie Platon, Hobbes oder Kant fehlen ebenso wenig wie Bezüge auf Nachkriegsphilosophen wie Gibbard oder Sen. Nida-Rümelins Ausführungen über sich widersprechende Denkschulen sind kurz gehalten, weshalb der in den letzten Zeilen unternommene Versuch überrascht, konfliktive und deliberative Demokratietheorie zu versöhnen.

Weltsozialpolitik, keine Frage!

Die bisweilen spröden Überschriften stehen im Gegensatz zur lebendigen Argumentation. Die minutiös entfalteten Ideale des Politischen, der Demokratie und des menschlichen Wesens sind Licht und Schatten zugleich. Einerseits: Wer will den von Nida-Rümelin normativ entfalteten Thesen, etwa einer gerechten Weltsozialpolitik, nicht beipflichten? Andererseits: Wenn das Politische auf Kooperation und geteilten Moralvorstellungen beruht, wenn der Mensch vernünftig ist – warum sind diese Ideale dann nicht längst in die Tat umgesetzt?

Was verfängt, ist das Werben Nida-Rümelins dafür, den Bürgern als politischen Wesen Respekt zu zollen, nach Gründen für das schwindende Vertrauen in Volksparteien zu suchen. Dies bewahrt vor Hochmut und mag die viel beschworene Kluft zwischen Elite und Bevölkerung schmälern.
Julian Nida-Rümelin: Die gefährdete Rationalität der Demokratie. Ein politischer Traktat. Edition Körber, Hamburg 2020. 304 S., 22 €.

Isabelle-Christine Panreck

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