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Reisetagebuch: Die Gespenster von Tokio

Das Tagebuch, das vom Weg in diese Attacke Zeugnis ablegt, verfährt im Krebsgang. Es ist die chronologisch rückwärts ablaufende Bestimmung einer Fremdheit, die die Entschlüsselung einer Entfremdung von sich selbst (oder was man dafür hält) einschließt – und auch die Lust in Mitleidenschaft zieht, das festzuhalten, was sie tagtäglich erlebt.

Von Gregor Dotzauer

Eine Reise, las sie bei Nicolas Bouvier, werde einen nichts lehren, wenn man ihr nicht auch das Recht einräume, einen zu zerstören. Dafür verflogen die sieben Wochen, die Kathrin Röggla 2005 in Tokio verbrachte, aber viel zu gut organisiert – nicht ohne dass gerade die wohlige Rundumbetreuung ihren Preis forderte. Gegen Ende ihres Aufenthalts suchte die Berliner Schriftstellerin eine Paranoia heim, die sich in halluzinierten Gesichtern am Fenster und Schritten im Flur äußerte. Keine Waldgeister und Gnome, wie sie ihr in Abbildungen begegnet waren, sondern „die gespenster meiner begegnungen, die gespenster meiner überhöflichkeiten, die etwas sehr körperliches bekamen“, wie sie in der ihr eigenen Kleinschreibung notiert.

Das Tagebuch, das vom Weg in diese Attacke Zeugnis ablegt, verfährt im Krebsgang. Es ist die chronologisch rückwärts ablaufende Bestimmung einer Fremdheit, die die Entschlüsselung einer Entfremdung von sich selbst (oder was man dafür hält) einschließt – und auch die Lust in Mitleidenschaft zieht, das festzuhalten, was sie tagtäglich erlebt. Rögglas „Rückwärtstagebuch“ lässt sich, nicht nur wegen seiner wiederholungsselig kreiselnden Satzstrukturen, als gedankliche Zirkelbewegung lesen: „vor der abreise lädt man alles mit fremdheit auf, nach der ankunft stellt man fest, wie ähnlich hier alles ist, bis man dann in den darauffolgenden tagen immer mehr erkennt, wie sehr alles doch anders ist.“

Eine Stadt, zwei Blicke. So, wie der Text im ersten Teil von Zeichnungen aus der Feder von Oliver Grajewski kommentierend unterbrochen wird, durchziehen im zweiten Teil die comichaften, ebenfalls im Krebsgang erzählten Strips des Berliner Künstlers Röggla-Zitate. Die Verschränkung der Perspektiven gehört zum Programm des Nürnberger Verlags Starfruit Publications, der mit diesem, mit Flexcover, Fadenbindung und cremefarbenem Munken-Pure-Papier wunderschön ausgestatteten Band, eine Reihe von Kooperationen zwischen Literatur und Bildender Kunst eröffnet. Zum Stadtführer taugt das nicht. Aber als Anleitung, sich zwischen Patchinko-Lärm und der Ruhe von Yasujiro Ozus Tempelgrab selbst einmal zu verirren, hat es eine unheimliche Verführungskraft.

Kathrin Röggla, Oliver Grajewski: tokio, rückwärtstagebuch. Starfruit Publications, Nürnberg 2009. 155 Seiten, 18 €.

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