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Roman: Von der Seele geschrieben

Duplizität der Ereignisse: Georg Diez erzählt vom Tod seiner Mutter und der Geburt seiner Tochter

Es ist eine Binsenweisheit, dass es in der Literatur keine fiktivere Gattung gibt als den autobiografischen Bericht. Denn je genauer man der Wirklichkeit auf den Pelz zu rücken versucht, desto mehr entzieht sie sich. Als ob die Sprache es nicht vertrage, überbelichtet zu werden mit realen Orten, realen Begebenheiten. So wirken Alltagsbeschreibungen, bei denen die Sprache nicht zittert, oft fad und ermüden den Leser, weil noch jedes Detail exakt verzeichnet und für die Ewigkeit festgehalten werden soll.

Die Probleme werden nicht kleiner, wenn es sich um eine Krankengeschichte handelt. Der Leser bekommt es dabei möglicherweise mit einer geradezu unerhörten, ihn aber logischerweise nichts angehenden Intimität zu tun. Dem Autor ist, bei Strafe des Misslingens, der Mittelweg verboten. Er kann seinen Text entweder hochtemperieren bis zur Schonungslosigkeit, wie es etwa der freilich in eigener Sache sprechende Theaterregisseur Christoph Schlingensief unlängst in seinem Krebstagebuch getan hat. Oder es muss eine, ebenfalls fast schmerzende, Distanz und Kühle den Text grundieren.

„Der Tod meiner Mutter“ des Journalisten Georg Diez ist weder mit heißem Herzen noch mit kühlem Blick geschrieben. Trotzdem wollte sich hier einer etwas „von der Seele schreiben“. Noch einmal genau nachdenken über den langen, allzu langen Abschied von der Mutter. Misslungen ist dieses Buch dennoch nicht.

1994, kurz vor einer mit dem Sohn geplanten Parisreise, erfährt die Mutter von ihrer Krebserkrankung, die „nur ein weiterer Wendepunkt in ihrem Leben“ war. Georg Diez ist Jahrgang 1969, sie, Hannelore Diez (auch ihre Vita ist auf dem Buchcover vermerkt), Jahrgang 1935. Die geistige und politische Emanzipationsbewegung von 1968 wurde für diese Frau, so sieht es der Ich-Erzähler, zu einer Gelegenheit, „das eigene Leben durchzuschütteln. Eine Gelegenheit, Verletzungen zurückzugeben.“ Sie habe damals begonnen, an der Institution Familie zu zweifeln, schreibt Diez. Und: „Familie war ein schwieriges Wort, sie war davor geflohen, vor diesem Wort, dann hatte sie es gesucht, dann war sie wieder geflohen.“

Sie lässt sich scheiden, trinkt, beginnt in München Sozialpädagogik zu studieren. Ein Ausbruch ins Offene, aber: „Schaut man genau hin, dann erkennt man, daß da so etwas wie Angst war in ihren Augen oder Skepsis. Bin ich zu weit gegangen, kann ich wieder zurück? Sie hatte die Brücken hinter sich abgerissen, wie absichtlich, um sich den Rückweg zu verbauen.“ Die milde Schizophrenie jeder Protestbewegung und ihre Tücken schimmern durch solche Sätze, wohl auch die Skepsis eines Nachgeborenen.

Interessant ist dieses Buch, weil es kein ausgesprochenes Mutterbuch ist, wie es sie in der Literatur zuhauf gibt, sondern vielmehr das Buch eines in mäßigem Wohlstand aufgewachsenen Sohnes, der plötzlich mit Krankheit und Tod eines Elternteiles konfrontiert wird: der Mutter, die wiederum die Kühle und Distanz ihres Charakters von den eigenen Eltern geerbt zu haben scheint. Im Grund, so der Erzähler, „eine Verschwiegenheit und Gefühlsverleugnung, die sie nicht mehr loswurde und von der auch ich mich erst nach und nach frei machen konnte.“

Hier wechselt, wie so häufig, die Perspektive, und das ist das Interessante an diesem Buch. „Der Tod meiner Mutter“ ist über weite Strecken auch der Bericht einer Selbstsuche des Erzählers, der dem Tod und dem Leben gleichermaßen ins Gesicht blickt. Es ist eine Gleichzeitigkeit der Ereignisse, an deren Wirklichkeitsgehalt wir nicht zu zweifeln brauchen. Das Buch bezieht daraus einen fiktiven drive: „Ich kippte den Rollstuhl an der Tür etwas an, und wie jedes Mal, wenn ich das tat, fühlte ich mich erwachsen und fürsorglich und gut, der ganze Ernst der Situation lag in diesem Kippen, das ein paar Monate später das Kippen des Kinderwagens war, den Fuß an die Hinterräder gestemmt, ein kurzer Druck auf den Griff, eine Autorität, die ich bis dahin nicht gekannt hatte.“

Autorität ist das Schlüsselwort. Hier erzählt jemand davon, wie und auf welchen Wegen er zu seiner „Autorität“ gekommen ist, etwas, das immer mit Entscheidung, Verantwortlichkeit zu tun hat. Diese Duplizität der Ereignisse, die fortschreitende Krankheit der Mutter, die kommende Vaterschaft des Sohnes, bildet den heißen Kern dieses Buches. Und sie produziert einige eindrückliche Bilder, die weit über das realistische Gerüst der Erzählung hinausragen. Etwa, wenn das junge Elternpaar auf der Großleinwand einer Arztpraxis das computergenerierte Ultraschallbild ihres Kindes zu sehen bekommt: „Die Stirn war gewölbt, die Hand hielt es am Kinn, es schien zu lächeln, orange flimmerte das Bild, das Kind schwebte durch einen Raum, den der Computer gebaut hatte.“

Und während das Kind im Bauch wächst, stirbt dessen Großmutter, trifft sich der Sohn, ohne deren Wissen, mit ihren Freundinnen: „Wir hatten ihr nicht gesagt, dass wir uns treffen würden. Hatten wir sie schon hintergangen?“ Immer verletzlicher, dünnhäutiger wird die kranke Frau. Sie verstößt die, die ihr helfen wollen, klammert sich an letzte, alltägliche Rituale. Ein Tisch, ein Packen Zeitungen, der nicht weggeräumt werden darf. Jede Veränderung wird zur Bedrohung. Wie helfen, ohne zu bevormunden, so lautet die Frage, die der Sohn sich nun, ein ums andere Mal, stellt. Als er, wie so oft, auf dem Weg zu ihr ist, erfährt er am Telefon von ihrem Tod.

Dieses Buch, das seine Stärke gewissermaßen aus einer der Realität entspringenden Fiktionalität bezieht, hat durchaus sprachliche Mängel. Weniger journalistischer Furor und mehr sprachliche Ausarbeitung hätten ihm gut getan („Deutschland in den späten fünfziger Jahren ... war ein unfreies Land mit unfreien Menschen, was 1968 ändern sollte.“). Seine Stärke ist die Durchlässigkeit des Erzählers, der am Ende parallel von der Geburt seiner Tochter und der Beisetzung seiner Mutter berichtet. Das Neugeborene bewegt seine Zehen, und die erste Ameise läuft über den Grabstein der Großmutter.

Georg Diez: Der Tod meiner Mutter.

Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2009.

208 Seiten, 16,95 €.

Volker Sielaff

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