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©  Christian Herrmann

Dsas Völkerrecht im Kriege: Spät erkannt

Kerstin von Lingen erklärt die juristische Kodifizierung von Kriegsverbrechen.

Gern möchte man die Strafbarkeit von Kriegsverbrechen, Massen- und Völkermord für ein selbstverständliches Gebot des Naturrechts halten. Aber daran glauben nur wir Laien, Juristen halten sich an das positive Recht, das Straftatbestände wie Staats- und Kriegsverbrechen oder „Crimes against Humanity“ erst im letzten Jahrhundert kodifiziert hat. Kerstin von Lingen, die sich dem Thema in ihrer Heidelberger Habilitationsschrift gewidmet hat, verwendet diesen Begriff in seiner englischen Fassung, weil die deutsche Übersetzung mit „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ oder „Verbrechen gegen die Menschheit“ – wie Hannah Arendt zum Eichmann-Prozess vorschlug – strittig ist.

Dre Zweite Weltkrieg als Scheidelinie

Justiziabel sind die „Crimes against Humanity“ erst seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, auch wenn in den Nürnberger Prozessen nur zwei Angeklagte – Julius Streicher und Baldur von Schirach – allein deswegen verurteilt wurden. Die Strafzumessung gilt bis heute als problematisch, wenn Schirach, als „Reichsstatthalter“ in Wien verantwortlich für die Deportation von 185 000 Juden, „nur“ zwanzig Jahre Haft erhielt und im Übrigen freigesprochen wurde, während der Judenhetzer Julius Streicher gehängt wurde – „weniger wegen seiner Position oder seiner Taten“, wie sein Biograf Daniel Roos befand, sondern wegen seines Rufs als – so die Urteilsbegründung – „Judenhetzer Nr. 1“.Selbst der amerikanische Hauptankläger fand das Urteil „gedankenlos“. Trotzdem hätten die Prozesse insgesamt zur Stärkung des Rechts beigetragen, das schon zuvor bestanden habe „und auch in Zukunft weiter bestehen wird. Dieses Recht verpflichtet nicht nur Deutsche und Japaner, sondern die ganze Menschheit“.

Ein Hauch von Siegerjustiz

Das war tatsächlich vorausschauend, was die „Crimes against Humanity“ angeht, die in den Folgeprozessen der Jugoslawienkriege in den Mittelpunkt rückten (und auch da noch schwer fassbar blieben). Und es trifft auch zu, dass sie eine längere Vorgeschichte zumindest seit der Aufklärung und „Zivilisierung“ des Kriegsrechts haben. Kerstin von Lingen weist nach, dass der Begriff schon im Amerika der Sklavenbefreiung und des militärischen „Lieber Code“ fiel, der den Unterschied zwischen Kombattanten und Zivilisten fixiert; in Europa erstmals beim Völkermord an den Armeniern. Als Instrument der Rechtsprechung – „tool“ in der Sprache internationaler Juristen – übernahmen ihn Politik und Gesetzgebung erst unter dem Eindruck weltweiten Entsetzens über totale Kriegsführung mit Giftgas und Bombenterror gegen die Zivilbevölkerung. Kerstin von Lingen legt Wert auf diese Feststellung, weil ihre Kernthese lautet, die opferzentrierte Verrechtlichung von Kriegsgewalt sei nicht allein staatlicher Initiative zu verdanken, sondern wäre ohne den Druck der Zivilgesellschaft und juristischer Experten aus den Reihen des europäischen Exils in London „wohl noch länger ein Traum geblieben“.

Dass seiner ersten Realisierung in den Nürnberger Prozessen ein Hauch von Siegerjustiz und Rückwirkung anhaftete, war dort allerdings ein willkommenes Argument der Verteidigung. Dabei hatten auch die Alliierten ursprünglich starke Vorbehalte gegen das Konzept der „Crimes against Humanity“ und ihre Ahndung durch internationale Gerichte. Der Versuch, Kriegsverbrechen durch nationale Gerichte der Beschuldigten ahnden zu lassen, weil die Souveränität der Staaten gewahrt bleiben sollte, war nach dem Ersten Weltkrieg am Beispiel der Leipziger Prozesse gegen deutsche Militärs gescheitert. Zwölf Verfahren endeten mit zehn milden Schuld- und sieben Freisprüchen, 1600 Verfahren wurden bis 1927 eingestellt. Kaiser Wilhelm, den der britische Premier Lloyd George 1918 hängen sehen wollte, fand Exil in Holland.

Die Wende im Oktober 1943

Vielleicht deshalb dachte Churchill im Zweiten Weltkrieg zunächst daran, Hitler und 30 Hauptverantwortliche ohne Prozess zu exekutieren oder 100 für vogelfrei zu erklären, was Stalin 1943 beim Treffen in Teheran mit dem Vorschlag beantwortete, 30 000 deutsche Offiziere zu erschießen. Das schockierte selbst Churchill, auch wenn Stalin beschwichtigte, das sei nur ein Scherz gewesen (wie ernst ihm solche Scherze sein konnten, hatte er an 20 000 polnischen Offizieren in Katyn demonstriert). Wenig später in Moskau einigte man sich im Prinzip auf Gerichtsverfahren am Ort der Taten, aber noch nicht auf ein internationales Tribunal, woraufhin Stalin in Charkow ein Tribunal mit sowjetischen Richtern über vier Deutsche und einen russischen Kollaborateur inszenierte. Dabei blieb es vorerst, zumal die Alliierten deutsche Vergeltungsmaßnahmen gegen Kriegsgefangene fürchteten.

Erst die Gründung der United Nations War Crimes Commission (UNWCC) im Oktober 1943 brachte die Wende zur international gültigen Definition und Verfolgung strafbarer Kriegsverbrechen, in die auf Drängen der beratenden internationalen (zumeist Exil-) Juristen auch „Crimes against Peace“ und „Crimes against Humanity“ einbezogen wurden, als Weiterentwicklung des Völkergewohnheitsrechts. Sie wurden durch die Londoner Konferenz 1945 und die Charta für die Nürnberger Prozesse verankert. Damit wurden Angriffskriege und Völkermord justiziabel und eröffneten eine Dimension von „new justice“, die alle Staats- und Massenverbrechen umfasst: von dem 1915 zuerst als „Crime against Humanity“ bezeichneten Völkermord an den Armeniern über den Holocaust bis zu Srebrenica und den Roten Khmer. Wie wirksam, steht auf einem anderen Blatt.

Kerstin von Lingen: „Crimes against Humanity“. Eine Ideengeschichte der Zivilisierung von Kriegsgewalt 1864–1945. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2018, 386 S., 79 €.

Hannes Schwenger

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