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Literatur: Verflucht sei dein Name, Vater

Kafka-Fragen unter einer Robert-Walser-Sonne: Sibylle Lewitscharoff unternimmt in „Apostoloff“ eine Reise durch Bulgarien

Von Gregor Dotzauer

Was für ein schandmäuliges Engelchen sich doch hier durch die Welt schimpft. Unbeirrbar munter, höchstens von zeitweiligen Migräneattacken gedämpft, zieht es über seine Geschlechtsgenossinnen her und gleich darauf über die Herren einer dringend erlösungsbedürftigen Schöpfung. Von welcher Ecke aus es seine bösen Blicke aber auch wirft, es fühlt sich immer vom Ganzen bedrängt, weshalb es nirgends lang verweilen kann und Blitze schleudernd von einer Empörung zur nächsten rauscht. Und wie es so durch ein wahres Stichflämmchenmeer zischt, riecht es hinterher manchmal sogar leicht nach Schwefel, was bei einem Engelchen, das sich seinen Gerechtigkeitssinn nicht von einer falschen Menschenfreundlichkeit hat vernebeln lassen, wenig verwundert.

Nachsicht hat die Erzählerin von Sibylle Lewitscharoffs Roman „Apostoloff“ nicht einmal mit dem eigenen Vater. Wozu auch? Er, der weithin beliebte Frauenarzt mit dem strahlenden Namen Kristo, hat sich frühzeitig aus der Verantwortung für die Familie gestohlen und sein Leben an einen Strick gehängt. Der Hass auf ihn konkurriert nur noch mit dem Hass auf das Land, dem er entstammt und das sie gerade durchqueren.

„Bulgarien? Vater? Ein Schnappmechanismus“, heißt es, während die Erzählerin vom Fond eines Daihatsu aus mal laut, mal leise gen Beifahrersitz giftet, wo ihre zwei Jahre ältere Schwester die Ausfälle mit ungetrübter Engelsgeduld erträgt. Am Steuer hält Rumen Apostoloff – „unser Hermes“ – stoisch den Kurs und spielt den Mittler zwischen den beiden Stuttgarter Schwäbinnen und einem Land, dessen Bewohner angeblich die abscheulichste aller Sprachen sprechen, „so eine weichliche, plump vorwärtsplatzende Sprache, labiale Knaller, die nicht zünden wollen“.

Als wenn es nur die Sprache wäre, die sie mitten in Bulgarien von Bulgarien fernhält. Zu allem finsteren Überfluss haben sie sich auch noch ihren hart trainierten Widerwillen abkaufen lassen. „Welcher Dämon“, fragt die Erzählerin, „treibt uns, die wir das Land des Vaters wortstark verabscheuen, längs und quer darin herumzufahren wie brave, pietätvolle Christinnen? Geld, Geld, Geld.“

Alexander Iwailow Tabakoff, ein gleichfalls nach Stuttgart ausgewanderter Freund des Vaters, hat ihnen 70 000 Euro dafür geboten, Kristos sterbliche Überreste zusammen mit den Leichnamen 18 weiterer Exilbulgaren in einem Trauerlimousinenzug von Stuttgart nach Sofia heimatwärts zu eskortieren.

Daran schließt sich eine Exkursion zu dritt an, bei der sich die Schwestern mit den Schönheiten Bulgariens vertraut machen wollen. Die Ältere indes lässt sich am Ende vor allem von den Reizen Rumens, des Götterboten und Apostels, einnehmen, und die Jüngere, was Männer betrifft, vom ersten Freund der Schwester an im Hintertreffen, erinnert sich daran, wie Trost damals nur der Familiendackel brachte. „Seither“, bekennt sie, „haben im tiefsten Kummer nur Tiere die Kraft, mich abzulenken.“

Sibylle Lewitscharoffs „Apostoloff“ ist ein aus der eigenen halbbulgarischen Herkunft geborenes Vatersuchbuch, ein Schwestereifersuchtsbuch, ein Bulgarienverachtungsbuch und noch einiges mehr, in erster Linie aber ein quecksilbriges Sprachgespinst, das weder nacherzählt werden will noch kann. In einem kaum gebremsten Redefluss sucht es sein Heil in einem von Erzählinsel zu Erzählinsel drängenden Tempo, dessen Vorwärtsvorwärts doch jederzeit von einem wachen, wenn auch äußerst flatterhaften Intellekt beobachtet wird. Was manchmal nur mokant dahingeplaudert wirkt, ist in höchstem Maß gedacht: aufgehängt zwischen Himmel und Erde, Hölle und Paradies – und in einem fortwährenden Austausch zwischen den Regionen des Materiellen und des Spirituellen, des Realen, Symbolischen und Imaginären begriffen.

Der Vater auf Erden, der „zwischen zuviel Gott im Namen und zuwenig Gott im Leben kein Gleichgewicht“ fand, wird überlagert vom Vater im Himmel, der sich aber vielleicht aus „Abermillionen Vätern“ zusammensetzt, „ihrem Rotz, ihren Tränen, ihrem Samen“, weshalb es „idiotisch“ wäre, „den eigenen herausfinden zu wollen“. Die Schilderung der sterbenden Mutter, die alles, was auf ihrem Nachttisch herumsteht, gegen das Kruzifix an der Wand schmeißt, als wollte sie den Mann am Kreuz treffen, während sie nur auf Kristo, seinen ihr dereinst angetrauten „unwürdigen Namensvertreter“, zielt, korrespondiert mit höchst irdischen Passagen über die von keinem Christus gesalbten Landstraßenhuren vor Varna, deren Qualen, so die Erzählerin, selbst Dantes Fegefeuer nur kraftlos umzüngeln würden. Und die durch das abenteuerliche Bedeutungsgewoge und -geschiebe fleuchenden Engel, die als Sendboten Gottes den Verkehr zwischen Immanenz und Transzendenz regeln, sind eher flügellahm kreuchende Geschöpfe.

Die Erzählerin, offenbar selbst ein arg gerupftes Exemplar der Gattung, erweist sich als Expertin in Sachen Angelologie, jenes Teils der dogmatischen Theologie, der erfolgreich auf den esoterischen Hund gekommen ist, und verhilft ihm undogmatisch und verspielt zu neuem Leben. Denn wozu sind Engel anderes da, als das unverständliche „göttliche Kauderwelsch auseinander zu nehmen“ und für jeden verständlich wieder zusammenzufügen. Ihre Tätigkeit – „Sammeln, Sortieren, Begutachten, Gruppieren, Verbinden“ – ist genuin literarischer Natur und die „Signifikantenschwemme“, die sie erzeugen, führt vielleicht zu jenem Chorgesang, den die Erzählerin, wenn sie einmal einen Glücksschub erfährt, aus dem stopfvollen Himmel vernimmt, wo es knackt und knirscht, „weil die Engel mit ihren großen Flügeln nebeneinander stehen“.

Sibylle Lewitscharoff, 1954 in Stuttgart geboren und seit über dreißig Jahren in Berlin zu Hause, stellt Franz-Kafka-Fragen unter einer Robert-Walser-Sonne. Sie stellt also Betrachtungen an über Sünde, Vaterleid, Hoffnung und den wahren Weg und hebt deren Gewicht sofort durch einen unangestrengten Entzückenston auf, dessen hintersinnige Heiterkeit sie mit Unschuldsmiene in etwas reizend Boshaftes wendet, um mit der Brutalität der beschriebenen Verhältnisse einigermaßen Schritt zu halten. „Nicht die Liebe vermag die Toten in Schach zu halten“, resümiert die Erzählerin, „nur ein gutmütig gepflegter Hass.“

Lewitscharoff schreibt mit „Apostoloff“ eine theologisch durchdrungene Literatur, ohne sich um Glaubenswahrheiten zu scheren. Aber dass sie ihre religiöse Grundmusikalität so schelmisch pflegt, lässt sie die Dinge des Menschen gnädiger und unerbittlicher verhandeln, als es Schriftsteller tun, die sich nicht von ein bisschen weiter oben das Trachten und Sinnen hienieden beschauen. Es befähigt sie zu jener tiefsten Form von Humor, die die ganze Verlorenheit in sich aufnimmt, die es auf Erden auszuhalten gilt. Man kann Leute wie die Schwester der Erzählerin, deren „gutmütiges Herz im Stahlgehäuse eines protestantischen Atheismus“ festsitzt und dieses Organ nicht entwickelt hat, nur bedauern.

Die einfallssprühende, spracherfinderische Dichte von „Apostoloff“ ist nicht vom Himmel gefallen. Die Kommunikation mit den Toten, das Erhören und Übersetzen ihrer Stimmen, prägte schon ihren letzten Roman „Consummatus“ (2006), und Stuttgart bildete schon die propere Kulisse, vor der sich in „Montgomery“ (2003) die Schicksale bis nach Rom und Cinecittà verzweigten.

Auch „Apostoloff“ bietet wieder ein Stück Stuttgart-Degerlocher Heimatkunde und zeichnet das sozialgeschichtliche Wunder nach, mit dem ein ganzer Schwarm rübergemachter Bulgaren in Schwaben einfiel und Prachtkerle wie Tabakoff Beute im einheimischen Blondinenpool machen ließ: Mit der monroehaften Lilo Wehrle, die Lewitscharoff als Dame Neverle – abgeleitet von née Wehrle – in einer Mischung aus Provinziellem und Mondänem zauberhaft porträtiert, eroberte er die attraktivste.

Der Kontrast zum ebenso lebhaft beschriebenen, graubraun vor sich hinschimmelnden Bulgarien, in dem man übermäßig parfümierten Kellnerinnen, Hotelkatastrophen und insbesondere einem eindrucksvollen Mafiaboss begegnet, könnte nicht größer sein. Doch Kontraste sind das Leben der Erzählerin. „Vielleicht“, gesteht sie, „zieht mich das Hässliche an, weil ich unaufhörlich nach Beweisen suche, wie verrottet und verderbt die Welt ist.“ Komischer als in „Apostoloff“ gibt einem – „Heilandzack!“, wie es auf gut Schwäbisch heißt – in der deutschen Gegenwartsliteratur niemand zu verstehen, dass darin auch ihre teuflische Schönheit liegen kann.

Sibylle Lewitscharoff: Apostoloff.

Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2009. 252 Seiten, 19,80 €.

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