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"Vom Leben, vom Tod...": Galgen und Humor

Einfall, Inspiration und das Verstummen von Dichtern: Urs Widmers Frankfurter Poetikvorlesungen.

„Verwechsle nie einen Einfall mit einer produktiven Eingebung deiner Fantasie“, rät Urs Widmer in seinen zu Beginn des Jahres in Frankfurt gehaltenen Poetikvorlesungen. „Einfälle haben wir alle im Minutentakt.“ Inspiration sei mehr, oft schon mit Struktur und Tempo eines Textes verbunden, der Ahnung eines ganz eigenen Tons – wie sie der junge Robert Walser hatte, als er sah, dass es ihm nicht möglich war, so zu reden wie die im Leben stehenden Erwachsenen um ihn herum. Widmer ist in seinen Vorträgen mit dem skurrilen Humor, für den er als Erzähler bekannt ist, den alten Fragen nachgegangen, die immer wieder neu gestellt werden müssen: worin die Arbeit der Fantasie besteht, welche Rolle das Gedächtnis beim Schreiben spielt, was einen Künstler befähigt, persönliches Leid ins Exemplarische zu übersetzen, und warum die Moderne von Rimbaud bis Wolfgang Hildesheimer so viele Beispiele für das Verstummen von Dichtern bietet.

Widmer, 1938 in Basel geboren, hat in den sechziger Jahren ein Buch über die Suche nach einer neuen, ideologisch unbelasteten Sprache in der deutschen Nachkriegsprosa geschrieben. Die Frage, was es heißt, keinen gesicherten Fundus des Sprechens und Denkens zu besitzen, beschäftigt ihn noch heute. Er erinnert an seine sprachkritischen Anfänge, wenn er betont, Dichtung habe sich immer in der Differenz zu den Normen der Alltagssprache entfaltet. Svevo, Kafka, seine Lieblingsdichter Robert Walser und Beckett – sie alle waren sprachliche und kulturelle Grenzgänger. An Beckett hebt er die nur noch aus „Schweigen und einzelnen Wortbrocken“ bestehende reduzierte Sprache der späten Stücke hervor – Ausdruck einer zwischen Verzweiflung und Gelächter schwankenden existenziellen Komik, wie sie im „Endspiel“ und „Warten auf Godot“ kulminiert. Beckett, resümiert Widmer, steht uns heute näher, wir sind weit eher bereit, uns auf seinen „schöpferischen Galgenhumor“ einzulassen. Der bekannte Satz vom „immer besseren Scheitern“ sei sozusagen Becketts Glücksformel gewesen, sein Weg, sich jenen Überschuss an Neugier und spielerischer Laune zu erhalten, jenen „Naivitätsraum“, in dem sich der Impuls zu schreiben erneuern kann.

Der Gegenwart, in der sich mehr und mehr ein Jargon der Effizienz und ökonomischen Überlegenheit, eine zum „Krieg im Maßanzug“ passende „Sprache der Sieger“ etabliert, wünscht Widmer Autoren, die bereit sind, sich an den neu entstandenen Normen zu reiben. Dichterschicksale sind Sprachschicksale.

Urs Widmer: Vom Leben, vom Tod und vom Übrigen auch dies und das. Frankfurter Poetikvorlesungen. Diogenes Verlag, Zürich 2007. 153 Seiten, 18,90 €.

Rolf Strube

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