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Literatur: Wie der Herbst klingt

Wo das Eigenleben der Dinge beginnt: die Gedichte des Schweden Bengt Emil Johnson

Kartografen sind Meister des Abstrakten. Wenn sie eine Landkarte anfertigen, vermessen sie die ausgesuchte Gegend viele Male, bestimmen die Projektion und übertragen Wert um Wert. Am Ende glauben sie sogar, die Landschaft von höherer Warte aus zu sehen, „in riesigen übersichtlichen / Bildern aus der Luft“. Der Orientierungsläufer indes geht auf im Augenblick, sein Vertrauen gilt der sinnlichen Gewissheit. So scheint er gebunden zu sein, „eingesperrt in ein Jetzt, / das sich zwischen den Kontrollpunkten konstant verschiebt zu den // Stoffbändern und schließlich zu den Holzgeländern am Ziel / die eigens aufgestellt wurden, um ihn aufzunehmen, aufzufangen // und ihn der Welt zurückzugeben, aus der er besteht“.

Der schwedische Dichter Bengt Emil Johnson ist ein Gleichgewichtskünstler des Augenblicks. Auch wenn er inzwischen fast zwei Dutzend Lyrikbände veröffentlicht und seine Poetik einige Male verändert hat, scheint die Spannung zwischen dem Jetzt und den Deutungen doch der eigentliche Antrieb seines Schreibens zu sein. Es ist zugleich die Suche nach jener Grenze, an der die Erklärungen enden, an der das Eigenleben der Dinge erahnbar wird: „Was gehört zu den Plätzen, wenn wir nicht da sind, wenn sie Plätze sind, und nicht Geruchsräume, Erinnerungsräume?“ Dabei verliert er sich nie im Ungefähren. Wie sein Landsmann Lars Gustafsson zielt er auf die Oberfläche der Welt, auf ein Denken und Sprechen jenseits metaphysischen Raunens.

Geboren wurde Bengt Emil Johnson 1936 im mittelschwedischen Saxdalen. In einer Gegend der Seen und Wälder, einer Moorlandschaft auch, in der sich der Unterschied zwischen Land und Wasser bisweilen kaum mehr ausmachen lässt. Darf man seinen wenigen autobiografischen Auskünften trauen, scheint es eine glückliche Kindheit gewesen zu sein. Nach der Schule studiert er in Stockholm Musik, spielt Klavier und komponiert selbst, an der Schnittstelle von Text und Klang. So ist es wohl kein Zufall, dass sein literarischer Erstling von 1963 den Materialcharakter der Sprache hervorkehrt – ganz im Sinne der damals aufblühenden Konkreten Poesie. Doch bald schon rückt er ab von diesem allzu eng umgrenzten Ansatz. Nicht, dass er Klang und Rhythmus aus dem Sinn verlieren würde, aber er entdeckt, dass auch das avancierteste Sprechen immer ein Sprechen über Welt ist.

Die Vorstellung, die Dinge könnten wieder entlassen sein aus dem menschlichen Umgang, zerstreut fast und sanft, frei von Absichten und Taten, ist der Fluchtpunkt, ja die Utopie von Johnsons Gedichten. Weil dies ein Moment jenseits von Sprache und Bewusstsein wäre, kann das Gedicht immer nur mit Annäherungen arbeiten. Johnson versucht das Problem zu fassen, indem er den Hiatus zwischen dem Augenblick und den Kontexten eigens zum Thema macht, indem er seine Gedichte mit prosanahen Einschüben versieht oder – umgekehrt – die Gedichte einbettet in Deutungen, Erläuterungen, Exkurse. Daneben schreibt er langzeilige Reflexionsgedichte. In all diesen Möglichkeiten zeigt sich Johnsons Arbeitsprinzip, das von Variationen und Abschweifungen lebt. Die Langzeile erweist sich als die ideale Versform für dieses fortwährende Abwägen, Aufspalten der Gedanken.

Den umgekehrten Weg, hin zum Konkreten des Augenblicks, gehen seine lyrischen Miniaturen. Die „32 Arten Elstern zu betrachten oder von ihnen betrachtet zu werden“ etwa. Hier begibt sich Johnson auf die Spuren berühmter Vorgänger. Er mischt gleichsam Wallace Stevens’ „Dreizehn Arten eine Amsel zu betrachten“ mit Rafael Albertis 33 Variationen über das Phänomen „Weiß“. So entsteht ein Panorama von Bildern jenseits bloßer Momentaufnahmen. Und die Elster wird zum Beispiel für etwas, das seinen Zweck allein in sich selbst hat: „Wie klang dieser Herbst? / Ein klebriges Gären / vom Reisighaufen / der zu Boden sinkt, // … ein allerfeinstes Knirschen / von der Oberfläche des ersten Frosts. // Und dazu:/ eine stumme wartende Elster. // Zeit genug. Mehr als genug.“

Der Schweizer Übersetzer Lukas Dettwiler hat einen schönen Pfad durchs Johnsons Lyrikbücher gezogen. Seine Übertragungen machen die klare, fast durchsichtige Sprache spürbar, die Johnson kultiviert hat. Schade nur, dass die schwedischen Texte in dem Band fehlen. Vielleicht hätte man sonst noch mehr vernommen von jener „verfluchten Lautlosigkeit“, die einmal beschworen wird.

Bengt Emil

Johnson:
Elchzeit.

Gedichte. Ausgewählt, übersetzt und mit

einem Nachwort von Lukas Dettwiler. Droschl Verlag,

Graz 2007. 152 S., 19 €.

Nico Bleutge

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