zum Hauptinhalt
Von Occupy Wall Street bis zu den Piraten: 2011 war ein Wendepunkt. Auch Klaus Stuttmann beschäftigte sich schon damals in einer Karikatur mit dem Wutbürger.

© Karikatur: Stuttmann

Wutbürger in Europa: So viel Empörung

Ralf Konersmann, Alan Posener und Jacques de Saint Victor analysieren eine Welt voller Unruhe und Antipolitik. Eine Rezension

Werden Sie auch immer ganz unruhig, wenn es ruhig ist, wohlmöglich zu ruhig? Passieren kann einem dies heute ja eigentlich nicht mehr. Dafür sorgen schon alleine die sozialen Medien, die Online-Kanäle, Print, Radio und Fernsehen. Und über das, was man dort geboten bekommt, kann man sich wunderbar aufregen – wenn man will. Dann ist es mit der inneren Ruhe, sofern man sie hat oder möchte, rasch vorbei. Dann will man meist noch mehr – lesen, hören, sehen – und sich vielleicht sogar daran beteiligen – schreiben, reden, filmen. Das nennt man dann heute Dialog mit dem Leser, Hörer, Zuschauer. Und eben dies ist zu einem Geschäftsmodell ganz eigener Art geworden: Je mehr mediale Aufregung, desto mehr Dialog mit Empfängern wie Sendern, desto mehr Klicks, verkaufte Auflage, Quote – so die Rechnung. Geht sie auf?

Stéphane Hessels Bestseller "Empört Euch!"

Alan Posener, der sich als meinungsstarker Journalist und erfolgreicher Sachbuchautor einen Namen gemacht hat, blickt kritisch auf das Geschäft seiner Branche. Er geht dabei der Frage nach, woher das Phänomen des „Wutbürgers“ kommt. Woher stammt dessen Empörung? Er zitiert die gängige Mahnung, man müsse dessen Ängste ernst nehmen. Und auch er traut Soziologen zu, sie zu sezieren: Angst vor Globalisierung, Digitalisierung, Entgrenzung, Individualisierung, der „Risikogesellschaft“; Sehnsucht nach Nestwärme und Sicherheit. Als Erklärung alleine genügt dies Posener jedoch nicht: Auch die deutsche Publizistik könne sich ihrer Verantwortung nicht entziehen. Nicht, weil sie als „Lügenpresse“ die Wahrheit verschweige, wie die Wutbürger meinten. Sondern weil Zeitungs- und Buchverlage, verstärkt durch die elektronischen und digitalen Medien, seit Jahren die Empörung schürten, dem Bürger suggerierten, die Weltgeschichte sei ein gegen ihn gerichtetes Komplott, mit dem Feuer der Tabuverletzung spielten und so in den Wald hineinriefen, wie es nun, zur Kenntlichkeit verzerrt, zurückschalle.

Pointiert schildert Posener, wie in den vergangenen Jahren Welle auf Welle medialer Erregung zu gesellschaftlicher Empörung führte. Er erinnert an den Bestseller „Empört Euch!“ von Stéphane Hessel vor sechs Jahren, an die viel Aufregung produzierenden Kassenhits von Frank Schirrmacher zum demografischen Wandel, zur Gentechnik, zur Lage der Familie und des Kapitalismus. Er beschreibt, wie Apokalyptiker und Verschwörungstheoretiker die Produktion von Wut und Angst betreiben – der immer wieder aufs Neue erklärte Ausnahmezustand verkauft sich schlicht besser als um nüchterne Aufklärung bemühte Literatur. Hinzu kommen die Zwänge der Aufmerksamkeitsökonomie.

Zwanzig Jahre „Showpolitik“ in Italien

Bricht nicht zuletzt auch dadurch ein neues Kapitel in der Geschichte der Demokratie an? Jacques de Saint Victor wendet sich denen zu, die sich scheinbar abgewandt haben – von den bisher praktizierten Ritualen in Medien und Politik. Der Professor für Rechtsgeschichte und Politik an der Universität Paris VIII Vincennes-Saint-Denis sowie Gastprofessor an der Università degli Studi Roma Tre richtet seinen Fokus auf die sogenannten Antipolitischen – Personen und Bewegungen, die sich als „antipolitisch“ verstehen. Sie findet er in den vergangenen Jahren sowohl in seiner französischen Heimat wie in seiner italienischen Wahlheimat. Zwanzig Jahre „Showpolitik“, Verhöhnung und technokratische Auswüchse hätten, im Kontext der wirtschaftlichen und moralischen Krise, ein gekränktes Volk erzeugt, das sich, hyperaktiv oder apathisch, aus Protest oder reinem Überdruss, vor allem gegen seine Eliten wende, und zwar gegen alle, ob politische, wirtschaftliche oder mediale, denen es vorwerfe, es verraten und im Stich gelassen zu haben.

Für Saint Victor markiert das Jahr 2011, was den Aufschwung von Antipolitik betrifft, einen Wendepunkt, den er auf eine Gleichzeitigkeit verschiedener Ereignisse zurückführt. Wie bereits Posener erinnert auch er an den Welterfolg von „Empört Euch!“. Dann kamen am 15. Mai 2011 die spanischen „Indignados“ mit ihrer Besetzung der Puerta del Sol in Madrid. Ihnen folgten die Griechen von „Aganaktismenoi“ (die „Zornigen“), die Amerikaner von „Occupy Wall Street“ und die Deutschen der Piratenpartei, die vor fünf Jahren 15 Sitze im Berliner Landesparlament errangen. Gekoppelt sieht Saint Victor diese Entwicklung mit der zunehmenden Bedeutung des Internets für die Demokratie. Denn 2011 war auch das Jahr, in dem die Isländer per Internet ihre Verfassung reformierten, was wiederum die Antipolitiker in ihrem Glauben an die Macht des Netzes bestätigte.

Doch ob diese von Saint Victor beschriebenen Geschehnisse, von ihm gebündelt unter Antipolitik, wirklich mehr sind als ein Sammelsurium isolierter Phänomene, nämlich Anzeichen einer tiefen Krise der westlichen Demokratien, wie Saint Victor glaubt, bleibt abzuwarten. In Deutschland ist der vor allem mediale Hype um die Piratenpartei längst vorbei, die Höhenflüge in Umfragen wie Wahlergebnissen ebenfalls. Auch „Occupy Wall Street“ hat keine bleibenden Spuren hinterlassen. Und ob die Antipolitischen die Politik Griechenlands nachhaltig prägen können, steht gleichfalls noch nicht fest.

Also vielleicht wieder mehr Ruhe als Unruhe in den kommenden Jahren? Dies wiederum scheint dann doch unwahrscheinlich. Aber dies dürfte weniger an medialen und politischen Phänomenen liegen. Sie spiegeln eher eine Entwicklung, die grundlegenderer Natur ist. Ralf Konersmann ist ihr nachgegangen. Der Professor für Philosophie an der Universität Kiel verfolgt den Wandel vom Ideal der Ruhe, die in dauerhafter Form über Jahrhunderte als Bedingung von Glück galt, zur Unruhe, die heute belohnt zu werden scheint in ihren Ausprägungen des Immer-Unterwegs-Seins und der permanenten Veränderung.

Die großen Erzählungen haben ihre Geltung verloren

Konersmann vollzieht in seiner genealogischen Reise durch die Geschichte nach, wie die westliche Kultur ihr Meinungssystem revolutionierte und dabei von der Präferenz der Ruhe zur Unruhe überging. Hier spielt auch eine Entwicklung eine Rolle, die Einfluss auf die von Posener und Saint Victor beschriebenen medialen wie politischen Phänomene haben dürfte: das Ende der großen Erzählungen. Auch für Konersmann ist die Geläufigkeit, die beispielsweise der Erzählstoff der Heiligen Schrift einmal besaß, verschwunden. Desgleichen sei der Ehrgeiz der anbrechenden Moderne, die durch das Entschwinden der großen Erzählungen entstandene Lücke mit Weltliteratur zu füllen und die Herde der Gläubigen in die Republik der freien Geister zu führen, ein Traum geblieben.

Zugleich macht Konersmann wohltuend darauf aufmerksam, dass nicht die großen Erzählungen selbst und an sich verschwunden sind, verschriftlicht und wohlverwahrt in textkritischen Ausgaben. Verloren gegangen ist vielmehr die Geltung dieser Erzählungen, ihre fraglose Dominanz und Exklusivität. In Konersmanns Augen hat hier die neuzeitliche Kritik, die mit dem Anspruch der Dogmatik brach und die Emanzipation des positiven Wissens betrieb, ganze Arbeit geleistet. Das Resultat dieses Entmythologisierungsgeschehens ist nach Konersmanns Analyse aber keineswegs eindeutig: Die vom Mahlwerk der Kritik freigesetzten Schwundstufen des Mythos seien erhalten geblieben und hätten, von ihren Ursprüngen getrennt und in alle Himmelsrichtungen zerstreut, als Legenden, Dramaturgien, Atavismen, Anspielungen und Parodien, kurz: als diffuse, irgendwie sinnverheißende und jederzeit abrufbare Bedeutungsverdichtungen überlebt.

Diese Überbleibsel sind nach Konersmanns Beobachtung auch ohne ihren Herkunftszusammenhang in der Lage, das funktionale Erbe der großen Erzählungen anzutreten und sich in der Umgebung radikal veränderter Meinungssysteme unentbehrlich zu machen. Daraus leitet Konersmann drei Schlussfolgerungen ab, die das temporäre Erscheinen von Phänomenen wie immer neuen Empörungswellen, Alarmismus und Antipolitik miterklären könnten: Erstens, die modernen Kulturen des Westens artikulieren ihr Selbstverständnis mit Hilfe eines figurativen Materials, das sie größtenteils nicht selbst geschaffen, sondern vorgefunden und übernommen haben. Zweitens, der Sinngehalt dieser Rückstände bleibt ohne den Hintergrund der angestammten Erzählzusammenhänge vage, so dass sie nun ungebunden und beliebigen Interessen dienstbar sind. Drittens, und gerade dies ist angesichts der von Posener und Saint Victor behandelten Erscheinungen dann doch wieder beruhigend, hat das heutige Kulturprimat der Unruhe nicht das Bedürfnis nach Relevanz und Verlässlichkeit abgeschafft, sondern lediglich die klassische Art und Weise, diesem Bedürfnis zu entsprechen.

Ralf Konersmann: Die Unruhe der Welt. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015. 461 Seiten, 24,99 Euro.

Alan Posener: Die empörte Republik. Ein Plädoyer gegen den täglichen Alarmismus. Rowohlt E-Book, Reinbek 2015. 75 Seiten, 0,99 Euro.

Jacques de Saint Victor: Die Antipolitischen. Mit einem Kommentar von Raymond Geuss. Aus dem Französischen von Michael Halfbrodt. Hamburger Edition, Hamburg 2015. 111 Seiten, 12 Euro.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false