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Dave Eggers' Roman "Weit gegangen": Zur Erde zurück

Umwerfend herzzereißend: In seinem Roman "Weit gegangen" lässt Dave Eggers sich die Geschichte eines jungen Sudanesen erzählen.

Die Welt schaut auf Amerika und seinen neuen Präsidenten, und die Welt schaut – wieder einmal – viel zu wenig auf einen Krieg in Afrika, dem Millionen von Menschen zum Opfer fallen könnten: Im Osten von Kongo bekämpfen sich gerade Regierungstruppen und die Rebellenbewegung CNDP in einem solchen Ausmaß, dass Berichterstatter das damit zusammenhängende humanitäre Drama mit den Schrecken im sudanesischen Darfur vergleichen.

Für die Rezension eines Buches auf einer Literaturseite mag dieser Einstieg ungewöhnlich sein – doch ist Dave Eggers’ neuer, im positiven Sinn fesselnder, herzzerreißender, nachhaltig beeindruckender Roman „Weit gegangen“ kein gewöhnlicher Roman. Zudem ist er inmitten eines Geschehens angesiedelt, das dem aktuellen im Kongo sehr ähnelt: dem Konflikt im Sudan, der lange vor dem Drama im ostsudanesischen Darfur begann, in den achtziger Jahren im Süden des Sudans. Damals wollte die islamistisch orientierte Regierung in Sudans Hauptstadt Khartoum auch den traditionell christlich geprägten Süden des Landes islamisieren, was zur Gegenwehr einer Rebellenbewegung, der SPLA, führte. Hauptleidtragende in diesem Krieg, wie jetzt im Kongo und überhaupt so oft: die Zivilbevölkerung.

Dave Eggers erzählt in „Weit gegangen“ die Lebensgeschichte eines inzwischen in den USA lebenden Sudanesen namens Valentino Achak Deng, der als kleiner Junge aus seinem Heimatort Marial Bay vertrieben wird, weil dieser von marodierenden, der Regierung nahestehenden arabischen Reitertruppen, den Murahilin, dem Erdboden gleichgemacht wird. Der Autor und sein Protagonist haben sich über eine Hilfsorganisation für sudanesische Flüchtlinge kennengelernt, und im Vorwort des Romans schickt der im Verlauf mit vielen Namen (unter anderem auch „Weit gegangen“!) ausgestattete Valentino Achak Deng voraus, Eggers habe aus seiner Geschichte einen Roman gemacht, „wobei er meiner Stimme möglichst treu blieb und auf wichtigen Ereignissen meines Lebens aufbaute“. Und er betont, auch wenn „Weit gegangen“ fiktive Elemente enthält, „dass die Welt, wie ich sie erlebt habe, sich nicht allzu sehr von der Welt unterscheidet, die auf diesen Seiten dargestellt wird“.

Und diese Welt, von der Achak hier berichtet, ist mitunter der reinste Horror, der von Achaks Flucht aus dem Sudan über Äthiopien bis nach Kenia nie aufzuhören scheint. Mit einer großen, drei-, vierhundert Jungen zählenden Gruppe, den sogenannten Lost Boys, gelangt Achak nach monatelangen Märschen durch Wüsten und Sümpfe nach Pinyudo, ein äthiopisches Flüchlingslager. Dieses wird nach und nach von der SPLA immer straffer militärisch organisiert (vor allem nachts), um Nachwuchs zu rekrutieren, und nach dem Sturz des Mengistu-Regimes in Addis Abeba ist auch hier Schluss: Vierzigtausend Menschen werden erneut vertrieben, wie Freiwild behandelt. Die Kehle hat es einem beim Lesen schon vorher zugeschnürt, wenn Achak beschreibt, wie auf den Märschen die Jungen nicht mehr können und sich zum Sterben an einen Baum setzen, wie das Leben aus ihnen herausfällt und ihr Fleisch „zur Erde zurückkehrt“. Oder er mit einer Gruppe Lost Boys die Gräber für die Toten schaufelt. Der Tod ist Achaks ständiger Begleiter, und er weiß oft selbst nicht, warum es immer andere erwischt, warum er trotz Hunger, Erschöpfung, Augenentzündungen und seelischen Frustrationen all das übersteht.

Die Frage stellt sich für ihn später umso dringlicher, als er in den USA lebt, in Atlanta, Georgia. Achak müht sich, ein College besuchen zu können, und muss mit neuen Lebensbedingungen zurechtkommen, unter anderem damit, auch in den USA nicht nur ein Mensch, sondern auch ein Schwarzer zweiter Klasse zu sein. Das Romanhafte seines Berichts besteht unter anderem darin, dass Eggers ihm eine literarische Form gegeben und gewissermaßen eine Parallelhandlung eingebaut hat: Achak, wie er zu Beginn in seiner Wohnung in Atlanta überfallen wird, wie er von einem 10-jährigen Jungen bewacht wird, bis die Einbrecher ihre Beute gefahrlos wegtransportieren können, wie er im Krankenhaus stundenlang auf Untersuchung und Behandlung wartet usw. Und Achak, der sich bei aller Unbill seiner Lebensstationen erinnert und davon seinen neuen Peinigern erzählt, indem er im Geist das Wort an sie richtet, an Tony und Puder, die Einbrecher, an Michael, den Jungen, an Julian, den Aufnahmepfleger.

Ordnet allein dieser formale Kniff den Zugriff auf Achaks bewegtes Leben, so ist es schließlich Achaks Stimme selbst, die beim Lesen immer näher rückt und ihn nicht nur als reinen Leidensmenschen zeigt. Achak lernt schreiben und rechnen, schließt Freundschaften, lernt die erste Liebe kennen und sich zu verlieben, wird Mitglied in einer Theatergruppe, und er weiß seiner Situation auch manches Heitere abzugewinnen. „Weit gegangen“ liest sich mitunter wie ein Abenteuerroman, und Achaks nüchtern-leiser Erzählton, von Eggers befördert, rückt seinen Bericht bald in die Nähe großer Entwicklungsromane, von Grimmelshausens „Simplicissimus“ über Moritz’ „Anton Reiser“ bis zu Hesses „Demian“. Und er beschert damit auch dem Vielschreiber, Literaturmagazingründer und Schreibwerkstättenleiter Dave Eggers nach einigen schwächeren Büchern wieder ein Werk, das sein großartiges und vielumjubeltes Debüt „Ein herzzerreißendes Werk von umwerfender Genialität“ weit in den Schatten stellt.

Wichtiger noch ist jedoch, dass Eggers mit diesem Buch dem Schrecken in Afrika, in Ruanda, Sudan oder im Kongo ein Gesicht mit einer Geschichte, einer Biografie gibt, die vielleicht mehr bewirkt als die sporadischen Artikel auf den hinteren Seiten der Tageszeitungen und den noch sporadischeren Fernsehberichten mit den immergleichen Bildern vom Elend namenloser Flüchtlinge. Auf dass die Welt öfter auf diesen häufig so vergessenen Kontinent blicke!

Dave Eggers: Weit gegangen. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008, 765 Seiten, 24,90€.

Alexander Leopold

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