zum Hauptinhalt

Kultur: Lob des Lobens

Schwarzrotgold als Party-Deko: Fußballdeutschland und seine neue Religion der Freude

Von

Die Fußballweltmeisterschaft ist für Deutschland das, was der Biologe Adolf Portmann einmal das „Organ des SichZeigens“ genannt hat. Sie funktioniert ähnlich wie die Mode. Das Fußballfest ist Spektakel, Event und Ritual zugleich. Als Spektakel befriedigt es die Schaulust und Neugier; als Event beschwört es die Aura des Einmaligen; als Ritual suggeriert es Sinnstiftung.

Die WM erinnert uns an den ursprünglichen Zusammenhang von Kult, Kunst und Spiel. Dieses semantische Feld, nämlich Jubeln, Prunken und Feiern, wird heute wieder von der Kultur der Wirtschaft besetzt. Das ist ein Vorgang von nicht zu ü berschätzender Tragweite. Endlich haben wir ein entspanntes, konsumistisches Verhältnis zu unseren nationalen Symbolen, zu Hymne und Flagge erreicht.

Noch in den späten siebziger Jahren wäre nichts unmöglicher gewesen als ein Lob des Lobens. Jedes Fest ist ein Ausdruck der Zustimmungskultur, also ein Medium apollinischer Affirmation. Es stellt unsere Zustimmung zur Welt und damit den Gegenpol zur kritischen Bewusstseinskultur dar. Mit anderen Worten, das Fest ist die Kultform einer „Religion der Freude“ (Richard Harder).

Mehr als jede sportliche Großveranstaltung zuvor bietet die WM 2006 die gelungene Entlastung vom Alltag, den kultivierten Ausnahmezustand. Insofern steht sie in einer Reihe mit Phänomenen wie Ferien, Party und Virtual Reality. Stets handelt es sich um ein Spiel mit der eigenen Identität und dem Alltag. Immer mehr Menschen suchen die Selbstverwandlung im Fest: Man macht sich schön, geht zum Ereignis und dann gut essen. Das genügt meist schon für den Ausnahmezustand der Seele. Die Festgemeinschaft feiert sich selbst: ob beim Opernball in Wien oder mit La Ola im Stadion. Für die WM gilt tatsächlich: Dabeisein ist alles! Der Volksmund weiß: Man muss die Feste feiern, wie sie fallen. Denn das Fest ist seine Feier, und man feiert es, weil es da ist.

Davon profitieren vor allem auch die Massenmedien, die mit großem Erfolg versucht haben, die gesamte Weltbevölkerung in das Spektakel einzubeziehen: Auch im Gaza-Streifen schaut man mit Hilfe von Notstromaggregaten Fußball! Was den Fernsehmachern hierzulande wohl vorschwebt, ist eine Synthese von Fußballspiel und Love Parade. Damit werden sie einem neuen Fan-Typus gerecht, dem es weniger um Fachsimpelei als vielmehr um Spaß und gute Laune geht. Wer heute schwarz-rot- goldne Fähnchen schwenkt, kommuniziert nicht „Deutschland über alles“, sondern „Let’s have a party“.

Der fröhliche, gelassene Patriotismus von vielen Millionen deutschen Fans ist die wirksamste Waffe gegen den Nationalismus der Rechtsextremen. Die vielen schwarzrotgoldenen Fähnchen, die an Geschäften und Autofenstern befestigt sind, wirken wohl auch auf ausländische Beobachter nicht chauvinistisch, sondern verspielt und heiter. Die Botschaft dieses Großereignisses lautet: Gastfreundschaft. Wenn man heute auf die Straßen schaut, könnte man von einem Verschwinden der Nationalflagge in ihrer Allgegenwart sprechen. Damit ist die Entnazifizierung abgeschlossen. Deutschland entkrampft sich – Abschied vom „typisch deutsch“.

Und all das verdanken wir dem unvergleichlichen Spiel: Fußball. Die großen Spieler sind Helden, denn ihre Welt ist transparent und klar begrenzt; sie wollen den Gegner dominieren, die Besten sein; und wenn sie verlieren, gibt es keine Entschuldigung. Du triffst den Ball – oder nicht. Da hilft kein Moralisieren, Psychologisieren oder der Hinweis auf eine tragische Kindheit. Sport findet in Echtzeit statt. Es gibt kein Nachdenken, die Anstrengung ist so klar erkennbar wie ihr Effekt, und es gibt ein klares Ergebnis.

Während in der Politik – vor allem nach Wahlen – alle als Sieger auftreten dürfen, und die Wirtschaft sorgsam vertuscht, dass ihr Triumphzug über namenlose Verlierer hinwegzieht, produziert Fußball in aller Deutlichkeit Sieger und Verlierer. Nur hier winkt uns noch die Anerkennung als „überlegen“ und „besser“. Nur im Sport darf man noch siegen. Während ein Sieg, diese antike Gestalt des Glücks, in unserer Kultur der Gleichheit ü berall sonst eine Peinlichkeit oder gar ein Skandal wäre.

In der Definition des Fußballspiels als „schönste Nebensache der Welt“ steckt auch ein Stück Wahrheit. Der Kampf um Anerkennung heftet sich an Kleinigkeiten. Die Selbstbehauptung gelingt vor allem im Nebensächlichen. Gerade die „Sinnlosigkeit“ des Spiels macht deutlich, dass es um reine Anerkennung geht. Wenn Deutschland heute gegen Italien antritt, geht es also für die Fans um „alles“ und um „nichts“ – um das Nichts des Weiterkommens und um das Alles der Anerkennung.

Dem Sportfeind und Soziologen Thorstein Veblen ist durchaus zuzustimmen, wenn er schon vor hundert Jahren auf die wesentliche Sinnlosigkeit und systematische Verschwendung als Charakteristika des Sports hinwies. Warum muss man trotzdem unbedingt zusehen, wie Deutschland gegen Italien spielt? Das lässt sich denen, die nicht zusehen, nicht erklären. Fußball ist buchstäblich Zeitvertreib, das heißt: Weltausgrenzung, Sein ohne Zeit. Hier gibt es keine Sorge, sondern nur geistesgegenwärtige Körper.

Man kann deshalb nicht sagen, was ein Fußballspiel ist. Wenn jemand danach fragt, kann man nur antworten: Geh hin und sieh! Es geht um die Grenzen der Körperbeherrschung und das fine tuning des Körpers. Fußball verstehen heißt, die Spielbewegung virtuell mitzuvollziehen. Letztlich muss man wohl selbst einmal gespielt haben, um nicht nur mitfeiern, sondern auch mitreden zu können.

Fußball fasziniert, weil das Spiel hohe Komplexität aus einfachsten Spielregeln aufbaut. Damit ist Unvorhersehbarkeit garantiert. Das produziert nicht nur Spannung, sondern auch einen unaufhörlichen Erklärungsbedarf, der dann von den Experten im Fernsehen befriedigt wird: Günther Netzer und Gerhard Delling, Rudi Völler und Jürgen Klopp. Die Medien benutzen das wiederum als Einfallstor für Talk und Entertainment. Noch mehr, als gespielt wird, wird geredet und inszeniert. Und genau deshalb haben auch die Fußball-Laien eine Chance, die Weltmeisterschaft zu genießen. Fußball für alle!

So naiv es klingen mag: Im Sport muss es mit rechten Dingen zugehen. Fußball ist die heile Welt der Leistung, die im Wettkampf Ehrlichkeit, Echtheit und Unmittelbarkeit verspricht. Ohne Umschweife kommt der Spieler zur Sache: das Wesentliche – sonst ist da nichts. Und das Wesentliche ist eben, den anderen zu besiegen, um dann als der Bessere anerkannt zu werden. Zidane, nicht Ronaldo. So bietet gerade der Profifußball – allen Millionentransfers zum Trotz – eine Popkultur der Authentizität. Heute Abend in Dortmund.

Der Autor lehrt Medienwissenschaften an der TU Berlin. Zuletzt erschienen von ihm der Zukunftsessay „Blindflug mit Zuschauer“ sowie „Die Helden der Familie“ (beide Fink Verlag, München)

Norbert Bolz

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false