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Kultur: Lob des Wechselwählers

Eine Generation wird ausgemustert (5): Wozu Rot-Grün die Unentschlossenen anregt

Große Worte und Begriffe: das rot-grüne Projekt, der Marsch durch die Institutionen, die Studentenbewegung – angekommen im Kanzler- und im Auswärtigen Amt. Nun werden die Projektentwickler wohl ab- und aus den Ämtern hinaus gewählt. Das fürchten die enttäuschten, frustrierten Linken und Liberalen, die das Gefühl haben, ihnen komme gerade ihr Land abhanden. Und das erwarten die Bürgerlichen, die nun hoffen, dass die deutsche Krise schneller zu Ende gehen könne. Keiner weiß, wie groß die Gruppe derer ist, die sich zwischen diesen Blöcken sehen – die Unentschlossenen, die Gerhard Schröder ganz gut, Joschka Fischer sympathisch und beider Politik ermüdend erfolglos finden.

Wechselwähler sind in Deutschland nicht sonderlich beliebt. Hierzulande gehört es sich, dass man weiß, wohin man gehört, gerade politisch. Neben dem rot-grünen Projekt wirkt ein Begriff wie Wechselwähler leichtgewichtig und unsympathisch. Für viele klingt er nach Unzuverlässigkeit und Bindungslosigkeit. Aber so ist es nicht. Wechselwähler entscheiden sich frei, je nach Situation. Es können Leute sein, die 1990 Helmut Kohls CDU gewählt haben, weil ihnen Oskar Lafontaines nassforsche Absage an eine große, menschlich ergreifende Gelegenheit, den „Mantel der Geschichte“ zu packen, falsch und unmoralisch vorkam. Dieselben Wechselwähler haben womöglich 1998 Gerhard Schröders SPD gewählt, weil ihnen Kohls bräsige Ignoranz gegenüber innenpolitischen Schwierigkeiten und Problemen von Arbeitslosigkeit bis Zuwanderung missfiel.

Heute fragt man sich, ob Angela Merkel an einem noch unbekannten Termin so viele Stimmen für die Union gewinnen wird, wie ihr jetzt in den Umfragen angekündigt wird. 46 Prozent oder mehr – dafür müssten die Anhänger der SPD schon kreis- und landesverbandsweise zu Hause bleiben und ihre Partei zugrunde schwächen. Oder es müsste ganz plötzlich besonders viele Wechselwähler geben – Leute, die ihre Entscheidung nicht nach gefühlter Nähe zu einem Projekt oder nach selbst diagnostizierter Generationenprägung treffen. Denn das vor allem unterschiedet Wechselwähler von denen, die sich einem Lager – auch kein schönes Wort – zugehörig fühlen: Sie wollen die politische Richtung vor allem deshalb ändern, weil sie finden, dass das Staatsschiff auf dem falschen Kurs läuft. Wechselwähler entscheiden nicht nach Ideologie oder Glaubensbekenntnis, nicht mal nach Herkunft oder Milieu.

Das ist der wichtigste Grund dafür, dass es in Deutschland so wenig offen bekennende Wechselwähler und Grenzgänger gibt. Wer sich für einen prominenten Intellektuellen oder Literaten hält, tendiert zur SPD, bekennt sich – oder schweigt verbittert. Wer sich für einen bedeutenden Industriellen hält, tendiert zur CDU, denn man ist ja auch für die soziale Marktwirtschaft. In der Anonymität der Wahlkabine wählt man vielleicht als Literat oder Banker dann doch den grünen oder gelben Direktkandidaten. Solches Denken in und Wählen nach gesellschaftlichen Kategorien führt dazu, dass viele die Offenheit der Situation unterschätzen – und damit auch die Chancen, die sie bietet.

Das beginnt mit der Frauenfrage. Wer mit Frauen über Politik redet, bekommt serienweise hemmungslose Sympathiebekundungen für Schröder oder Fischer. Doch kaum eine Frau sagt, sie verspreche sich etwas von einer Kanzlerin. Mag sein, dass viele Frauen Angela Merkels Führungsstil für männlich halten – aber wissen sie das und wissen sie, wohin er führt? Eine seltsame Skepsis gegenüber Politikerinnen zeigt sich da. Man könnte dies boshaft auf Claudia Roth zurückführen oder generell auf Stutenbissigkeit. Doch zeigen grüne Frauen wie Kathrin Göring-Eckardt, dass es auch ganz anders geht.

Offen, viel zukunftsoffener, als die lagergebundenen Wähler meinen, sind fast alle Politikfelder, auf denen die Gesellschaft von morgen entstehen wird. Glaubt im Ernst jemand daran, die Union werde den Paragraphen 175 wieder einführen, alle lebenspartnerschaftlich verbundenen Homosexuellen zwangsscheiden und alle Mütter zum Mittagessenkochen für ihre Kinder verpflichten? Das sind paranoide Politfantasien aus den 80er Jahren, die die Oppositionsparteien schlechter machen, als sie sind.

Offener, als viele meinen, ist auch die Frage nach der Zusammensetzung der nächsten Regierung: Wird sie vollständig von der Union dominiert sein – oder einen kräftigen liberalen Anteil enthalten? Etwas weniger Sozialstaat als jetzt – oder deutlich weniger Sozialstaat, dafür mehr Freiheit, das eigene Leben zu ordnen? Lebensordnungsfragen sind bei uns zur Zeit vor allem Versicherungsfragen - von den Zähnen bis zur Pflege. Aber das ist noch nicht alles. Mehr Liberalität, mehr Freiheit wäre vor allem mehr konkurrierende Verschiedenheit, bei Schulen wie bei Universitäten oder den Ladenöffnungszeiten

Darüber ist zu entscheiden. Wer einen Politikwechsel will, weil die herrschende Politik nicht mehr weiter weiß, kann nicht so wählen, wie es seinen Gefühlen von gestern entspricht. Er sollte im Kopf die Richtung wechseln.

Hiermit endet unsere Serie zum Abschied von Rot-Grün. Es erschienen Texte von Harald Martenstein (6.6.), Jan Schulz-Ojala (10.6.), Robert Ide (17.6.) und Caroline Fetscher (22.6.).

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