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Der Pianist Lucas Debargue.

© Sony/Promo

Lucas Debargue im Boulez Saal: Auf schwankenden Planken

Der große Eigensinnige unter den jungen Pianisten: Der Franzose Lucas Debargue debütiert im Boulez Saal mit Schubert, Chopin und Szymanowski.

Es gibt einen Sitzplatz, der wie kein anderer zu dem Klavierabend passt, den Lucas Debargue im Boulez Saal spielt. Er liegt auf der Empore, in der geschwungenen ersten Reihe von Block H, hoch über dem abgedeckten Steinway. Hier gibt es keine gerade Linie, an die man den Blick heften kann. Umgeben von Wellen aus Holz, nah am Abgrund, beobachtet man durch die Reling einen großen jungen Mann, der zu seinem Instrument schreitet und dabei die Füße so setzt, als befände er sich auf einem schwankenden Schiffsdeck. Man meint, das Brausen in seinem Kopf bis hier herauf hören zu können. Es dauert seine Weile, bis Lucas Debargue sich vor den Tasten zentriert hat, fast schon beginnt, dann aber lieber doch noch einmal tief durchatmet.

Dazu wird er dann die ganze Schubert-Sonate a-moll D 784 lang nicht mehr kommen. Jeden einzelnen Takt unterzieht der 27-jährige Franzose einer radikalen Klangvisitation. Wie dunkel ist das, wie zerbrechlich, wie himmelschreiend einsam! Anfangs traut Debargue nicht einmal fernen Echos eines Schubert-Tonfalls, unterbricht den großen Unterbrecher ununterbrochen, bei größtmöglicher dynamischer Aufspreizung. Der erste Satz erlangt so beinahe die Eigenschaften einer Toccata, einer schonungslosen Material-, Raum- und Instrumentenbefragung.

Debargue gilt als der große Eigensinnige unter den jungen Pianisten, als leicht nerdiger Protagonist für alle, denen technische Brillanz nicht alles ist. Dabei zeigt er gerade in seiner Zerstückungskunst, was er auf dem Klavier alles zu sagen vermag . Bei seinem Schubert jedoch droht Abnutzung, weil jeder Zuhörer, auch der unten im Saal, längst verstanden hat, dass hier nur für Sekunden gesungen werden darf, wenn überhaupt.

Die letzten Klänge gelten dem Jazz

Mit Chopin kommen dann Überraschungen jenseits des Kuriositätenkabinetts hinzu, entspinnt sich ein furioses Spiel mit verschobenen Tempi, das erneut den Boden schwanken lässt. Weil ihm die Proportionen nach der Bacarolle Fis-Dur op. 60 und dem Scherzo Nr. 1 h-moll op. 20 nicht behagen, hängt Debargue vor der Pause noch die Polonaise Nr. 6 As-Dur op. 53 dran.

Danach dann ein Stück, das für Pianisten wie diesen geschrieben wurde: Szymanowskis Klaviersonate Nr. 2 erhebt den schieren Überfluss zum Programm, bricht sich Bahn über alle Grenzen hinweg, überfordert mit Nonchalance Interpreten wie Rezipienten und benötigt nur minimale Ruhepausen. Debargue ist hier ganz in seinem Element, reizt das, was man noch differenziert wahrnehmen kann, bis zum Anschlag aus. Dass die Ohren nun eine Erfrischung nötig haben, registriert er unmittelbar nach dem Jubel. Debargue verabreicht zart Fließendes von Milosz Magin und pointiert Hingetupftes von Scarlatti, um dann mit dem 2. Chopin-Scherzo noch einmal das ganz große Hördrama zu entfachen. Die letzten Klänge gelten dem Jazz. Und das Schwanken erscheint plötzlich als natürlichste Form des Daseins.

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