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Kultur: Lust, Laut, Lack

Tanz den Orpheus: Marie Chouinard beschließt das Movimentos-Festival in Wolfsburg

Von Sandra Luzina

Die kanadische Choreografin Marie Chouinard ist bekannt als Schöpferin exzentrischer Bildwelten. Zum Abschluss des Movimentos-Festivals in der Autostadt Wolfsburg sorgte Madame Chouinard nun für Aufregung. Als Deutschlandpremiere zeigte sie ihre neue Produktion „Orpheus und Eurydice“, eine zugegeben recht ausgefallene Version des bekannten Mythos. Die „Wolfsburger Nachrichten“ berichteten von „ordinären Sex-Szenen“, die so manchen Zuschauer verstört hätten, und das, obwohl die Choreografie für Wolfsburg bereits entschärft worden sei. Auf Nachfrage erklärte die Autostadt: Das Stück sei keineswegs entschärft worden, allerdings habe Chouinard die Choreografie nach der Uraufführung in Rom noch erheblich gestrafft.

Chouinards tänzerische Fantasie ist ein Versuch über die Ekstase. Wenn die erste barbusige Schönheit auftritt, staunt man allerdings nicht schlecht. Goldene Hotpants, Fellstulpen an den Beinen, Nippelschmuck – diese stilisierte Wilde mutet an wie eine Kreuzung aus Tempeltänzerin und Disco-Maus. Sie bewegt nicht nur auf aufreizende Weise ihr Becken, sondern erteilt uns gleich eine Lektion in weiblicher Lust.

Chouinard überblendet Mythos und Moderne. Sie beschwört die archaischen Triebkräfte und springt dann in die Gegenwart, zeigt eine Schar von Techno-Jüngern beim Raven. Die zeitgenössischen Trance-Tänzer und ihre Verschmelzungssehnsucht überzieht Chouinard mit mildem Spott. Doch auch ihre Antiken-Fantasie ist mit ausgelassenem Humor getränkt und kommt teilweise wie eine durchgedrehte Revue-Extravaganza daher.

Den Mythos von Orpheus und Eurydike lässt die Choreografin von einem Darsteller am Mikro nacherzählen, die Tänzer illustrieren Szenen wie den Schlangenbiss Eurydikes. Sie schneiden wilde Fratzen und verwandeln sich in die Bewohner des Hades. Wenn davon berichtet wird, wie der Kopf des Orpheus auf dem Meer treibt, nachdem er von den entfesselten Mänaden bei lebendigen Leib in Stücke zerrissen wurde, dann rollt ein Mann über die wellenförmig bewegten Tücher. Das ist drollig anzuschauen, überhaupt wirken die Tänzer oft wie ausgelassene Kinder, die mal richtig über die Stränge schlagen wollen.

Marie Chouinard legt ihr Augenmerk nun nicht auf die herzzerreißende Liebesgeschichte. Sie lässt ihre Tänzer auf den Spuren von Orpheus nach einer Sprache jenseits aller Vernunft suchen. Kleine Schlangen ringeln sich aus den Mündern der berauschten Neu-Orphiker – die ergehen sich ausgiebig in wilden Lautmalereien, die von dem kanadischen Dichter Claude Gauvreau inspiriert sind. Gellende Schreie der Lust wechseln mit rauen Klagelauten. Der durchdringend-schräge Klang von tibetischen Trompeten oder das helle Bimmeln von Glöckchen ergänzen die stimmliche Extremperformance, die sich zu einem chaotischen Konzert auswächst. Chouinard huldigt nicht dem Apollinischen, sie versucht sich am Dionysischen. Die Ekstatiker zucken, zappeln im Vereinigungstaumel. Der Tanz ist stark erotisiert, aber zugleich sehr stilisiert und ästhetisiert.

Die wohl anstößigste Szene zeigt fünf Männer auf hohen Lacksandalen, die mit imposantem schwarzen Kunstphallus bestückt sind. Diese augenzwinkernde Sex-Fantasmagorie ist eine Anspielung auf die antiken Satyrspiele, wie man sie von der griechischen Vasenmalerei kennt. Chouinards gut gebaute Böcke sind freilich des Balletts kundig und gehen erst mal ins Grand Plié. Bald finden sich auch die willigen Nymphen ein zur kollektiven Orgie. Eine gewisse Lust an der Provokation ist Marie Chouinard nicht abzusprechen. In erster Linie ist ihre Choreografie aber eine Feier des menschlichen Körpers.

Kontroverse Diskussionen gehören zu einem solchen internationalen Festival. In diesem Sinne war die sechste Ausgabe von „Movimentos“ – mit Wayne McGregor, Garth Fagan, Grupo Corpo. dem Béjart Ballet und dem Göteborg Ballet – anregend und auch mutiger als die Vorläufer. So viele hochkarätige Ensembles sieht man sonst selten. Schon stellt sich Vorfreude ein. Im nächsten Jahr geht es weiter mit Movimentos.

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