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Der Dirigent Enrique Mazzola

© Joe Mazza

Lyric Opera of Chicago: „Die Leute mögen es hier konservativ“

Eine Begegnung mit Enrique Mazzola, dem italienischen Chefdirigenten der Lyric Opera of Chicago: Er träumt davon, den ästhetischen Horizont des Publikums hier im Mittleren Westen zu erweitern.

Von Regine Müller

Chicago ist die drittgrößte Stadt der USA, die Metropole am Lake Michigan ist berühmt für ihre atemberaubende Moderne-Architektur. Die Lyric Opera of Chicago residiert in einem 45-stöckigen Hochhaus von 1929, der imposante Art-déco-Saal fasst 3500 Plätze.  

Im Foyer überrascht vor „Don Carlos“ ein diverses Publikum, denn es mischen sich jung und alt, urban und ländlich. Schrill gekleidete fashion-victims treffen auf knorrige Farmer-Typen, Pailletten-Outfits bilden einen aparten Kontrast zu lässigen Hoodys. Und der Hang zu exzessiver Klimatisierung trotzt selbst strengen Außentemperaturen, man ist gut beraten, den Mantel mit in den Saal zu nehmen. 

Lodernde Leidenschaft im eisgekühlten Saal

„Darüber zu diskutieren ist sinnlos“, erklärt Enrique Mazzola beim Lunch und warnt: „mir ist immer kalt dort“. Als er den Orchestergraben betritt, brandet im etwa zu 85 Prozent besetzten Saal herzlicher Applaus auf. Verdis „Don Carlos“ ist in einer Inszenierung von David McVicar zu sehen, die 2007 für die Frankfurter Oper entstand, Robert Jones‘ weißes Einheitsbühnenbild bietet wenig optische Reize für das statische Geschehen. Was hier zählt, ist vor allem die musikalische Qualität, und die kann sich hören lassen: Mazzola dirigiert das oftmals tonnenschwer genommene Werk konsequent aus dem Geist der französischen Grand Opéra.

Blick in den Zuschauerraum der Lyric Opera of Chicago
Blick in den Zuschauerraum der Lyric Opera of Chicago

© Darris Lee Harris

Was sich auch im schlank besetzten Cast spiegelt: Joshua Guerrero singt die Titelrolle sogar mit eine Spur zu leichtem Tenor, aber glut- und druckvoll, Rachel Willis-Sørenson ist eine lyrisch aufblühende Elisabeth, Clementine Margaine eine lodernde Eboli, herausragend Igor Golovatenko als Posa mit zwingendem Legato. Ein Sängerfest. 

Das mit Rossinis „Le Comte Ory“ noch gesteigert wird. Wieder steht Mazzola im Graben und manövriert in Bartlett Shers quirliger Inszenierung ein enorm wendiges Ensemble durch die Tücken der hoch virtuosen Partitur. Unbestritten an der Spitze behauptet sich Star-Tenor Lawrence Brownlee in der Titelrolle mit furchtloser Koloraturgeläufigkeit und pointensicherem Spiel. Besser kann man das schwerlich machen.  

Bild Szene aus der Oper „Don Carlo“ mit Joshua Guerrero und Rachel Willis-Sørensen
Bild Szene aus der Oper „Don Carlo“ mit Joshua Guerrero und Rachel Willis-Sørensen

© TODD ROSENBERG

Für Enrique Mazzola ist Chicago genau die richtige Stadt, um Amerika zu erobern. „Hier herrscht nicht dieser rasende Lebensrhythmus wie in New York. Wir sind hier im Mittleren Westen, die Menschen sind sehr freundlich, ich spüre eine große Wärme. Und die Chicagoer sind stolz auf ihre Kultur, die sie ja selbst finanzieren, das darf man nicht vergessen! Deshalb ist das gesellschaftliche Leben sehr wichtig in Chicago. Es geht immer ums Netzwerken, darum, neue Sponsoren finden.“ 

Angesprochen auf die Struktur des Publikums bestätigt Mazzola den ersten Eindruck: „Die gesamte Gesellschaftsstruktur ist hier nicht so sehr in Klassen unterteilt, sondern eher in Communities: Es gibt eine afroamerikanische Community, eine asiatische, eine polnische und viele andere mehr.“ 

Außenansicht Lyric Opera of Chicago
Außenansicht Lyric Opera of Chicago

© Lyric Opera of Chicago

Besonders die afroamerikanische Community will man ansprechen mit Opern wie „Dead Man Walking“ von Jake Heggie. Es sei “eine neue Welle” von afroamerikanischen Opern, die Jazz- und Blues-Einflüsse nutzten, und damit ein traditionelles Publikum vereinen könnten mit Communities, die sonst keinen Zugang zur Oper hätten, ist Mazzola überzeugt. “Hier mögen die Leute diesen amerikanischen Ansatz sehr.” 

Vorsichtig vorwärts in Richtung Moderne

Um ganz in der Stadt anzukommen, lebt Mazzola mittendrin, im 55. Stock des John-Hancock-Center mit Blick auf den See. Zum Opernhaus fährt er mit dem Bus. “Das kann hier keiner verstehen, es ist wohl auch eine sehr europäische Idee. Aber ich brauche diesen Kontakt zur Realität der Stadt.“ 

Zur widersprüchlichen Realität gehört, dass sich das diverse Publikum am ehesten auf einen konservativen Geschmack einigen kann, wie Mazzola bestätigt: „Es sind eigentlich sehr moderne Menschen hier, sie lieben zeitgenössische Kunst, nicht nur in den Museen. Wenn man die Leute besucht, sieht man nur Design-Möbel und zeitgenössische Kunst an der Wand. Aber in der Oper wollen sie diese konservativen Sachen sehen.“ 

Mazzola träumt von einem sanften Geschmackswandel, will „eher entwickeln als verändern, das wäre arrogant.“ Und hat erste Versuche gestartet: „Wir hatten Barrie Koskys ,Zauberflöte‘ zu Gast, in der Premiere liebten sie etwa 70 Prozent, aber 30 Prozent hassten sie. Und ab der zweiten Aufführung hatten wir ein neues Publikum, das neugierig war. Die nächste Kosky-Produktion ,The Fiddler on the roof‘ war durch die Bank ausverkauft“. 

Mazzola kann sich weitere Versuche mit Regisseuren vorstellen, die starke Regie-Handschriften bieten, „ohne alle Regeln zu brechen“. Und was die Diversität angeht, macht er sich nichts vor: „Um einen echten Mix des Publikums zu erreichen, wird es sicher noch lange brauchen. Wir sind am Beginn eines langen Prozesses”, gibt er zu, “Aber wir fangen damit an!” 

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