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Kultur: Madrid tötet mich

Von Julio Llamazares

In den achtziger Jahren machte in Madrid ein Satz die Runde, der perfekt das Doppelgefühl aus Begeisterung und Ermüdung beschrieb, das diese Stadt auslöste: Madrid bringt mich um. Doch mit der Zeit geriet der Satz in Vergessenheit, so wie das kulturelle Leben Madrids an Schwung verlor. Bald war er fast aus dem Sprachgebrauch verschwunden. Heute, nach den Ereignissen vom Donnerstag, erinnere ich mich wieder an ihn: Madrid bringt mich um. Es bringt mich doppelt um: wörtlich, aber auch wegen des Schmerzes, den ich nun für diese Stadt empfinde.

Eine Stadt, in der ich – wie die Mehrzahl ihrer Bewohner nicht geboren wurde und zu der ich mich deshalb nicht voll zählen kann; die ich trotzdem mit jedem Tag mehr als die meine empfinde, trotz ihrer Widersprüche und ihrer Untreue. Madrid gehört allen und niemand, sie wird geliebt und zugleich gehasst.

Dabei hatte sich Madrid nie träumen lassen, einmal die Hauptstadt Spaniens zu werden. Sie war eine erfundene Stadt, lag weder am Meer noch an einem großen Fluss; sie hatte weder eine lange Geschichte noch ein großes architektonisches Erbe vorzuweisen; sie hatte weder eine Kathedrale noch Schriftsteller, die sie idealisierten; ja, sie war eher eine Kleinstadt mit Hof, wie es auch ihr Wappen ausweist. Doch seit jeher schleppte sie den Makel des Emporkömmlings mit sich herum, der sie als eine Fremde auswies, und zog sich so den Hass und den Neid der anderen Städte zu. Manchmal gab es dafür gute Gründe, manchmal nicht. Und ob sie wollte oder nicht: Zur gleichen Zeit wurde sie für viele Spanier zum Mekka, die in ihr ihren eigenen Himmel suchen.

Doch diese widersprüchliche Stadt, die – höfisch und proletarisch zugleich, modern und funktional – für alle Übel des Landes verantwortlich gemacht wird, hat nichts zu tun mit dem Bild, dass viele von ihr zeichnen, sei es aus Naivität oder böser Absicht. Sicherlich ist Madrid Hof und Bienenstock, der, wie eine Fabel sagt, Fliegen von überall her anzieht. Doch vor allem ist Madrid eine Stadt, in der Millionen Menschen aus aller Welt leben, die jeden Morgen aufstehen, um zur Arbeit zu gehen, die sich verlieben, Kinder kriegen, sie aufziehen und erziehen, die sich in ihrer Freizeit vergnügen, die älter werden, ohne es zu merken, und die eines Tages aus der Stadt verschwinden, herausgeschleudert von ihren Zentrifugalkräften oder aus Sehnsucht nach den Provinzen oder Heimatländern, oder einfach weil sie des Lebens müde sind.

All diesen anonymen, wahren Madrilenen, die nicht in der Zeitung auftauchen, es sei denn aus tragischen Gründen, galt der Anschlag vom Donnerstag. Er traf sie stellvertretend für alle Spanier und als unfreiwillige Verantwortliche für die „Sünden“ der Stadt, in der sie leben. Doch weder sind die Madrilenen repräsentativer für Spanien als die Bewohner anderer Städte, noch haben sie Schuld an den angeblichen „Sünden“, die man dieser Stadt in die Schuhe schiebt, nur weil sie zufällig die Hauptstadt eines Staates ist, den viele in Zweifel ziehen.

Im Gegenteil sind die Madrilenen die ersten, die unter den „Sünden“ zu leiden haben. Als ich sah, wie sie am Donnerstag zerstört in den Zügen lagen oder wie Geister durch die Reste der Züge irrten, als ich ihre aufgewühlten Gesichter sah, wie sie in den Eingängen der Krankenhäuser und Totensammelstellen standen, als ich ihren Schrecken sah, wenn sie still die Straßen überquerten auf der Suche nach ihren Kindern oder auf dem verfrühten Heimweg von der Arbeit, habe ich mich zum ersten Mal in den zwanzig Jahren, die ich nun schon hier lebe, als einer von ihnen gefühlt, und ich habe verstanden, dass diese geliebte und zugleich geschmähte Stadt auch meine ist, obwohl ich mich in ihr immer als Durchreisender gefühlt habe. Madrid bringt mich um, es hat mich umgebracht wie die anderen, obwohl ich lebe, um darüber zu berichten.

Seit vier Jahren schreibe ich an einem Roman – „Der Himmel von Madrid“ –, in dem ich meine Erfahrung mit der Stadt metaphorisch zusammentrage. Für die einen bedeutet der Himmel über Madrid die Freiheit, für die anderen ist er der Erfolg, für die nächsten die Unabhängigkeit oder das einfache Überleben. Die in diesen Tagen gestorben sind, werden ihn nie erobern und nie wieder sehen. Schuld hat diese irrationale Welt.

Julio Llamazares ist einer der bekanntesten spanischen Autoren. Auf Deutsch erschien u.a. „Wolfsmond“ und „Der gelbe Regen“. Aus dem Spanischen übersetzt von Philipp Lichterbeck.

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