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Kühne Linien. Pablo Picassos „Les Femmes d’Alger (Version O)“ von 1955.

© Bridgeman Images/Succession Picasso/VG Bild-Kunst, Bonn 2021

Picasso, Matisse, Delacroix im Museum Berggruen: Maler, Blicke, Pantöffelchen

Die spektakuläre Ausstellung „Picasso & Les Femmes d’Alger“ im Berliner Museum Berggruen.

In majestätischer Reglosigkeit thront sie im Schneidersitz auf einem Kissen. Das Kopftuch rahmt das Gesicht wie ein Heiligenschein. Die rechte Hand hält die Wasserpfeife als Zepter. In den kalkig grauen Tönen wirkt Pablo Picassos Frau aus Algier hier wie eine archaische Matriarchin.

Diese Berliner Version des Motivs ist jetzt Ausgangspunkt für die spektakuläre Ausstellung „Picasso & Les Femmes d’ Alger“ im Museum Berggruen.

Eine Rarität in Europa

Als einziges Museum in Europa beherbergt es ein Gemälde aus der fünzehnteiligen Serie, eine Leihgabe der Familie Berggruen. Jetzt ist diese zwölfte Version, „L“, im Zusammenhang ihrer Entstehung zu entdecken und in Gesellschaft von sieben weiteren Gemälden aus der Reihe.

Madonnen, Prinzessinnen, Gefangene, Kriegerinnen, Mütter, Geliebte, Konkubinen, Freundinnen oder Raucherinnen? Die Schau spielt mit den Möglichkeiten der Malerei und sie rückt die vielfältigen Variationen der Betrachtung ins Bewusstsein.

Vorlage für Picassos Beschäftigung mit künstlerischen Traditionen und der Entwicklung in seinem eigenen Werk bilden zwei Gemälde von Eugène Delacroix. Die großformatige erste Fassung „Femmes d'Alger dans leur appartement“ von 1834 hängt im Pariser Louvre und wird nicht ausgeliehen.

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In Berlin ist stattdessen die etwas ungeschickte Kopie von Henri Fantin-Latour zu sehen. Spannender ist ohnehin die zweite Fassung von Delacroix aus dem Jahr 1849, die jetzt als Original das Publikum im Eingang begrüßt, „Les femmes d’Alger dans leur intérieur“.

1832 begleitete der Maler den französischen Diplomaten Charles de Mornay bei einer Reise nach Marokko und fuhr mit dem Schiff weiter nach Algier. Er war entsetzt von der französischen Kolonialmacht, die beim Straßenbau Moscheen zerstörte und wollte unbedingt das Innere eines Hauses sehen, auch die Räume der Frauen.

Frauen, die herrliche Stoffe sticken

Ein ehemaliger Kapitän gestattete ihm den Zutritt. In dem privaten Bereich faszinierten Delacroix das Licht und die Atmosphäre. „Die Frau in ihrem Gemach, die sich mit ihren Kindern beschäftigt, Wolle spinnt und herrliche Stoffe bestickt“, so soll er nach der Überlieferung eines Freundes geschwärmt haben.

Vor Ort skizzierte er die Frauen, notierte ihre Namen und die Farben ihrer Kleidung. In einer feinen Zeichnung sind zwei Frauen zu sehen, die sich vertraut einander zuneigen. Schon 1940 umriss Picasso die Haltung der beiden Körper in seinem Skizzenbuch. Aus diesem winzigen Kern entwickelt die Ausstellung jetzt ihre vielschichtige Erzählung.

Delacroix schauf Raum für Interpretationen

Delacroix malte nicht, was er gesehen hatte. Er ließ die Kinder weg und die Handarbeit und schuf damit einen grenzenlosen Raum für Interpretationen. Kalkuliert befeuerte er die anzügliche Lesart mit einem einzelnen roten Pantöffelchen und feierte mit dem Bild sein Comeback. Welche Fantasien die Szene bis heute auslöst, verrät der merkwürdige Wikipedia-Eintrag zu dem Bild.

In seiner zweiten, rätselhafteren Fassung, die fünfzehn Jahre später entstand, entrückt Delacroix die Frauen, verdunkelt den Raum, dämpft die Stimmen, indem er den Kachelboden durch Teppiche ersetzt. In beiden Versionen fesselt die Intimität, die vollkommene Entspanntheit der Köper, die sich keines Beobachters bewusst sind. Delacroix malt die vermeintliche Abwesenheit eines männlichen Blickes.

Trauerarbeit, Geschichtsanalyse, Liebesbeweis

Später nutzte Pablo Picasso diese Verschiebung zwischen den beiden Bildern. Als er sich am 13. Dezember 1954 an die Arbeit machte, gingen seiner Auseinandersetzung mit Delacroix drei Ereignisse voraus. Am 1. November 1954 hatte der algerische Unabhängigkeitskampf begonnen, am 3. November war Henri Matisse gestorben und Picasso hatte kurz zuvor Jacqueline Roque kennengelernt, die einer der Frauen von Algier verblüffend ähnelte. Das Projekt ist Trauerarbeit, Standortbestimmung, Geschichtsanalyse und Liebesbeweis zugleich.

Schon in der ersten Version A löst Picasso die zentrale Sitzende aus der Gruppe heraus. Er nimmt die Körper auseinander, jagt sie durch die Zentrifuge, fügt eine Prise seiner eigenen Grausamkeit hinzu und setzt alles neu zusammen.

Bald stellt er die Liegende nach dem Vorbild von Matisse auf den Kopf, flicht ihre Beine zum Zopf, lässt die Dienerin wie eine Pariser Kellnerin mit dem Tablett auf dem Arm durch die Gruppe segeln und verwandelt die watteweiche Stille in turbulentes Getümmel. Dabei greift er zurück auf seine eigenen Anfänge, erinnert an das revolutionäre Bild „Les Demoiselles d’Avignon“, den Kubismus und huldigt der Farbenpracht von Matisse.

[Museum Berggruen, bis 8. 8., Besuch nur mit negativem Corona-Test und Zeitfenster-Ticket: www.smb.museum/tickets]

Beide Künstler waren der Überzeugung, dass in ihre Werke auch die Experimente ihrer Vorgänger einfließen. Aber Picasso will daraus etwas Neues machen. Sportlich ambitioniert nimmt er zwei Perspektiven gleichzeitig ein, zeigt die Liegende auf dem Bauch und auf dem Rücken als einen Körper, ganz organisch. Halt geben dem Blick die greifbaren Gegenstände, die er von Delacroix übernimmt. Das Tischchen, das Tablett, die Wasserpfeife. Nur das Pantöffelchen ignoriert er.

Die letzte Version O verbindet die sinnlichen Ornamente von Matisse und die Strenge des Kubismus. In dieser Kombination überwinden die Frauen von Algier am Ende fast den Bildrahmen mit ihrer Präsenz. „Picasso hebt den Fluch auf, sprengt das Unglück, entwirft mit kühnen Linien ein völlig neues Glück“, schreibt die algerische Schriftstellerin Assia Djebar.

Der Stülerbau schließt für zwei Jahre

Im Obergeschoss reagieren zeitgenössische Künstlerinnen und Künstler auf diese Vorbilder. In einer hauchzarten Fotografie porträtiert Halida Boughriet eine alte Frau, die entspannt auf dem Diwan ruht. Ein Windzug wölbt die Gardine, mildes Gegenlicht hüllt die Liegende in eine Aura. Auch dieses Bild eröffnet viele Lesarten, aber die Fotografin offenbart die Geschichte. Die alte Frau ist Witwe, ihr Mann starb im Unabhängigkeitskrieg.

Der Stülerbau mit seinen halb-privaten Räumen bietet das perfekte Ambiente für diese intimen Ansichten. „Picasso & Les Femmes d’Alger“ ist vorerst die letzte Ausstellung im Charlottenburger Haus, ehe das das Museum für zwei Jahre schließt, weil die Klimaanlage erneuert werden muss. Bis dahin sind die Frauen von Algier ein heilsames Gegenmittel für eine Zeit, die nach eindeutiger Zuordnung verlangt. Aus winzigen Zeichnungen entstanden Bilder über Bilder. Jedes einzelne lädt zu unterschiedlichen Deutungen ein. Der Lohn für die Offenheit sind viele Perspektiven, nicht die einfache Antwort.

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