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Kultur: Malewitsch in der Pampa

„Realidad y Utopía“: Zeitgenössische Kunst aus Argentinien in der Berliner Akademie der Künste

In Argentinien erscheint jeder Mensch winzig klein. Auch jene, die sich andernorts für die Größten halten, gelangen dort zu dieser Einsicht. Die Weite der Landschaft überwältigt. Fast achtmal so groß wie Deutschland ist das südamerikanische Land und hat gerade einmal die Hälfte der Einwohner. Die Wirkung dieser Weite auf die Wahrnehmung untersucht die Ausstellung „Realidad y Utopía – Argentiniens künstlerischer Weg in die Gegenwart“ in der Akademie der Künste mit Arbeiten von mehr als 70 Künstlern.

Sie sind einerseits eng mit der europäischen Kulturgeschichte verbunden, versuchen andererseits sich von ihr zu emanzipieren. Auch 200 Jahre nach der Mairevolution im damaligen Vizekönigreich des Río de la Plata ist die Suche nach einer argentinischen Identität ein Hauptthema der Kunstszene von Buenos Aires. Die Partnerstadt Berlins hat sich in den letzten zehn Jahren zum künstlerischen Brennpunkt entwickelt.

Die Werke sind häufig politisch aufgeladen wie Leonel Lunas „Eroberung der Wüste“ von 2002. Auf dem großformatigen Bild greift der 45-jährige Maler aus Buenos Aires ein Gemälde von 1898 auf, das die militärische Besitznahme von Patagonien durch den späteren Präsidenten Julio Argentino Roca und seine Soldaten zeigt. In einer symbolischen Umkehrung ersetzt Luna die nationalen Truppen in den Pampas durch Arbeitslose, Obdachlose und Piqueteros – die Leidtragenden der letzten großen Wirtschaftskrise zwischen 1998 und 2002.

Der Fall war tief: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts eines der reichsten Länder der Erde, lebten vor acht Jahren über die Hälfte der Argentinier unterhalb der Armutsgrenze. Diese Entwicklung hinterließ auch in der Kunst ihre Spuren, die sich zunehmend kämpferisch gibt. Parodie und Ironie sind bevorzugte künstlerische Mittel, um die Folgen der neoliberalen Umstrukturierung der 90er Jahre anzuprangern. Diese endete in einem Desaster: Als der Wirtschaftsminister 2001 alle Bankkonten einfrieren ließ, waren Generalstreiks, Massenplünderungen und gewaltsame Ausschreitungen die Folge, bei denen mindestens 27 Menschen umkamen. Auch der Peronismus und die Militärdiktaturen der Sechziger und Siebziger, die das Land mit Terror überzogen und etwa 30 000 Menschen verschwinden ließen, werden behandelt. León Ferrari etwa sammelte für eine Collage Zeitungsausschnitte mit Vermisstenmeldungen.

Diese Erfahrungen erklären die große Sehnsucht nach Utopien auch in der Kunst. Die unendliche Landschaft dient dabei häufig als Projektionsfläche einer besseren Zukunft. Die Pampas, deren Rinderherden das Land seinen Reichtum verdankte, sind Schauplatz von Carlos Trilnicks Videoinstallation „Warum ein schwarzes Quadrat malen“.

Der Medienkünstler aus Rosario präsentiert darin seinen skurrilen Versuch, in der menschenleeren Landschaft schwarze Tücher zwischen vereinzelten Bäumen anzubringen und so eine Ahnung von Räumlichkeit zu erschaffen. Auf beeindruckende Weise sichtbar wird die Weite des Landes auch auf Matilde Maríns analoger Panoramafotografie „Reise bis zum Horizont“. Sie zeigt einen Himmel, der sich über einer endlosen Landschaft wölbt. Wie mit dem Lineal gezogen erscheint der Horizont, nicht einmal der kleinste Baum ist zu sehen.

Eine spezielle Erfahrung erwartet den Besucher im dritten Untergeschoss der Akademie. In einem großen dunklen Raum mit kahlen Betonwänden sind drei Kinoleinwände von fast 70 Quadratmetern aufgespannt. Zu sehen ist darauf Charly Nijensohns Videoinstallation „Der Schiffbruch der Menschheit“ von 2008, die in ihrer Ästhetik an die Arbeiten von Bill Viola erinnert.

Der seit acht Jahren in Berlin lebende Videokünstler drehte die siebenminütige Sequenz auf dem größten Salzsee der Welt, dem Salar de Uyuni im Südwesten Boliviens. Die riesige körnige Fläche ist mit wenigen Zentimetern Wasser bedeckt und bildet einen schier unendlichen Spiegel, der den Himmel reflektiert. Die wenigen Menschen, die regungslos auf dem Wasser stehen, scheinen zu schweben. Überwältigt blickt man auf diese unwirkliche Landschaft. Dann ertönt ein Donnern, und ein sinnflutartiger Platzregen setzt ein.

Akademie der Künste, Pariser Platz 4, bis 14. 11.; Di - So 11 - 20 Uhr. Katalog 18 €.

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