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Kultur: Man spricht Westdeutsch

Wir sind ein einig Volk. Sprachlich auf jeden Fall. Die ostdeutschen Begriffe verschwinden.

Von Matthias Schlegel

Wir hatten nicht geahnt, welchen Respekt wir bei unserer Westverwandtschaft mit der Neuigkeit einheimsen würden. Als wir Mitte der 80er Jahre in einem der damals noch üblichen Briefe nach drüben berichteten, dass wir nun endlich unseren Bungalow fertig gestellt hätten, wurden wir hochachtungsvoll beglückwünscht. Als wir die Verwandten später in unseren Kleingarten einluden, ließen sie sich gnädigerweise die Enttäuschung nicht anmerken: Der Bungalow des Ostens war eine gewöhnliche Gartenlaube, in der Regel bestehend aus Presspappe-Fertigteilen. Im Westen dagegen bezeichnete der Begriff ein durchaus stattliches, ebenerdiges Wohnhaus. Die Peinlichkeit erreichte uns erst nach dem Mauerfall. Da bestaunten wir so manches West-Haus und erfuhren, dass es sich um Bungalows handelte. Mussten wir uns nachträglich schämen?

Das war dann schon zu einer Zeit, als wir es uns abgewöhnt hatten, vom Kollektiv zu sprechen, wenn wir das Team meinten, oder vom Betrieb, wenn es ums Unternehmen ging. Die alten Worte zu vermeiden, fiel uns leichter, als die neuen zu gebrauchen. So kam es zu gelegentlicher Sprachlosigkeit im Umgang mit unseren „Brüdern und Schwestern“ von drüben. Dies im Übrigen eine nationale verbale Klammer, die früher selbstverständlich nur im Westen benutzt wurde. In der DDR hätten wir wohl eine Stasi-Beobachtung riskiert, wenn wir uns dieser Wortwahl befleißigt hätten – andererseits hätten wir wohl unseren Freundeskreis eingebüßt, wenn wir im privaten Bereich vom „Klassenfeind“ gesprochen hätten. Die Gespaltenheit in die öffentliche und die private Existenz wurde in der DDR auch in der Sprache sichtbar. Doch das ist ein anderes Thema.

Der Sprachwissenschaftler Manfred W. Hellmann hat ermittelt, dass der Ostdeutsche in seiner Resozialisierung zum Bundesbürger innerhalb der ersten fünf Jahre des wiedervereinigten Deutschlands zwischen 1500 und 3000 Wörter lernen musste. Das bezieht sich allein auf die „Gemeinsprache der Gebildeten“, wie Hellmann sie bezeichnet, populär gesagt also auf die gehobene Alltagssprache. Der Fachwortschatz, der in Ost und West weitaus differenzierter war, ist darin nicht enthalten. Viele von diesen neuen Begriffen kannte der gelernte DDR-Bürger passiv aus dem Westfernsehen, ohne sie freilich selbst je benutzt zu haben.

Hellmann ist so etwas wie der Nestor der deutsch-deutschen Sprachforschung. Der mittlerweile pensionierte Wissenschaftler hat seit 1964 am Institut für Deutsche Sprache in Mannheim fast 40 Jahre lang dieses Thema erforscht. 27-mal ist er mit seinem stets präsenten Zettelkasten zur Leipziger Messe gefahren, um DDR-Begriffe zu sammeln und die Unterschiede im Sprachverhalten am lebenden Objekt zu studieren. Die friedliche Revolution und der Mauerfall waren eine Zäsur in seiner Arbeit: Das plötzlich unbegrenzt zugängliche Forschungsobjekt wickelte sich sozusagen selbst ab, indem die beiden deutschen Sprachen nun wieder zusammenwuchsen. Ein paar Jahre noch konnte er den lexikalischen Anpassungsprozess intensiv beobachten, ehe sich am Ende von Hellmanns Berufsleben im Jahr 2001 auch sein Forschungsgegenstand gänzlich erledigt hatte.

Für ihn hatte die deutsche Einheit einen geradezu paradiesischen Zustand bewirkt. Nach 1991 zogen insgesamt 22 Berufskollegen vom Ostberliner Zentralinstitut für Sprachwissenschaften in das Mannheimer Institut ein. Ein Drittel der Belegschaft waren plötzlich Ostdeutsche, und Hellmann schwelgte mit seinen neuen Kollegen in linguistischer Seligkeit. In den Pausen spielten sie Versammlungen im VEB-Betrieb nach, hefteten sich Auszeichnungen an die Brust und übertrafen sich gegenseitig darin, das haarsträubendste DDR-Zeitungsdeutsch mit seinen Genitivkaskaden zu zitieren: „In Auswertung der Beschlüsse des VIII. Parteitages der SED hoben die Redner die Rolle und Bedeutung der herausragenden Leistungen der Werktätigen im sozialistischen Wettbewerb zur gezielten Erfüllung und Übererfüllung des sozialpolitischen Programms der SED hervor.“

Die Ostdeutschen drüben mühten sich indessen, die Bedeutungen hinter den neuen Begriffen zu verstehen, die es in ihrer bisherigen Welt nicht gab, deren Gebrauch für sie aber wegen der neuen Lebensumstände unvermeidlich wurde. Worte wie Mehrwertsteuer, Arbeitslosigkeit oder Sozialamt gingen ihnen schon bald hurtig über die Lippen. Andere Begriffe drängten sich in ihre Lebenswirklichkeit, die mit der Verwestlichung des Alltags einzogen. Manchen davon und den sie bezeichnenden Riten konnte man sich verweigern – etwa dem Valentinstag. Dessen DDR-Tauglichkeit mag schlicht am Mangel an Schnittblumen Mitte Februar gescheitert sein. Auch Halloween war in der DDR kein Thema. Und technische Innovationen und deren Begrifflichkeit hatten das Land, das sich in seiner chronischen Selbstüberschätzung zu den zehn stärksten Industrienationen der Welt zählte, ohnehin stets mit jahrelanger Verspätung erreicht.

Hunderte Begriffe warfen die Neubundesbürger dagegen rasch selbst auf den lexikalischen Müllplatz. Ihre Inhalte hatten sich erledigt. Was wollte man noch mit dem VEB (volkseigener Betrieb), dem Subotnik (freiwilliger gemeinnütziger Arbeitseinsatz), der Spartakiade (Nachwuchswettbewerb im Sport), dem ABV (als Abschnittsbevollmächtigter einfach ein Polizist), den Pionieren, dem Parteilehrjahr oder gar dem Klassenfeind? Und Reisekader (Eliten, die ins – vor allem westliche – Ausland reisen durften) waren wir mit der neuen Freiheit plötzlich alle geworden. Nicht nur die spröden Begrifflichkeiten, die der in alles hineinregierende Staat der Sprache hinzugefügt hatte, gingen unter. Auch der im Volkswitz wurzelnde spezifische DDR-Wortschatz begann auszusterben: Die Rennpappen (Trabbis) verschwanden mehr und mehr aus dem Straßenbild, für Bückware (rare Produkte, die oft nur über Tauschhandel zu kriegen waren) musste sich keiner mehr krumm machen, und statt zur Fahne (Nationale Volksarmee) wurden die jungen Leuten nun zum Bund eingezogen. Tauchen die alten Begriffe in der Literatur auf, werden sie meistens im Anhang erläutert. Andere, besonders absurde Wortschöpfungen regelungswütiger Planwirtschaftler waren nie wirklich bei den Menschen angekommen: Die „Jahresendflügelfigur“, die allen Ernstes den wegen seines religiösen Ursprungs anrüchigen Weihnachtsengel ablösen sollte, wurde von den Leuten bestenfalls verulkt. Und auch die Winkelemente, jene Fähnchen, mit denen bei Staatsbesuchen die an die Protokollstrecken bestellten Werktätigen den hohen Gästen zujubelten, taugten höchstens fürs Kabarett.

Gleich nach der Wende hatten sich die Ostdeutschen im Westen mit ihrer Wortwahl genauso wie mit dem schier unvermeidlichen Begrüßungshandschlag als ehemalige DDR-Bürger – meist unfreiwillig – geoutet. Mancher bemühte sich dann eilfertig, nun westkompatibel zum Supermarkt statt zur Kaufhalle zu gehen, die Sprösslinge zur Kita statt zum Kindergarten zu bringen, sich eine Zweizimmerwohnung statt einer Zweiraumwohnung zu suchen, seinen Führerschein statt der Fahrerlaubnis zu erwerben oder Kunststoff statt Plaste zu sagen. Den Westdeutschen blieb solcherlei sprachlicher Anpassungsdruck erspart – sie waren nicht nur in der Überzahl, sondern hatten mit ihren Verwaltungsbeamten und ihrer Verwaltungspraxis auch ihre Verwaltungssprache ins Beitrittsgebiet exportiert.

Schon unmittelbar nach der Grenzöffnung, erst recht nach der Wiedervereinigung zeigte sich für die Ostdeutschen das ganze Ausmaß der Veränderung in allen Lebensbereichen. Zunächst hatte schon die Bürgerbewegung mit der friedlichen Revolution in der DDR „den Wortschatz aus dem Gefängnis des Zeitungsdeutsch herausgesprengt“, wie es Hellmann formuliert. Die Sprache in jener Zeit erinnerte ihn „ein bisschen an Predigtdeutsch“, kein Wunder, schließlich gehörten viele Pfarrer zu den Protagonisten dieses Aufbruchs.

In der Folgezeit potenzierte sich dann die Zahl der neuen Begriffe für die Ostdeutschen. „Von der Sprache der Wende ging es ganz schnell zur Wende der Sprache“, sagt die Sprachwissenschaftlerin Ingrid Kühn von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. In einer Studie Mitte der 90er Jahre schrieb sie: Die „Veränderung erfordert Anpassung. Übernahme von angepassten wirtschaftlichen, sozialen oder wissenschaftlichen Strukturen erfordert Übernahme von Lexik. Neue Lexik und neue Texte … müssen schnell verinnerlicht werden – das führt zu Verunsicherungen und Fremdheitsgefühl.“ Sie wusste schon damals, wovon sie sprach. Denn bereits 1992 hatte die Professorin an ihrem Germanistischen Institut eine Sprachberatungsstelle gegründet, die bald einen wahren Ansturm an Nachfragen registrierte.

Dass die Sprachentwicklung in West-Ost-Richtung ging, mag schon damals kaum jemanden verwundert haben. Gleichwohl hat es im Osten viele erbost. „Ich will nicht. Ich sehe überhaupt nicht ein, warum ich ,cash‘ sagen muss, wenn es dafür das deutsche Wort ,bar‘ gibt“, zitierte Kühn 1995 aus einem Leserbrief an eine Lokalzeitung. Der Schreiber zählte sich selbst zur „ausgegrenzten Randgruppe der Vorruheständler“, dem es nach eigenem Bekunden nicht mehr gelingen werde, „dank eines schnellen Lernens des neudeutschen Wortschatzes ein richtiger Mensch zu werden“.

Wer diesen Anspruch noch nicht aufgegeben hatte, ließ sich von Ingrid Kühn und ihren Mitarbeitern der Sprachberatungsstelle verbal auf die Sprünge helfen. Da ging es um neue Berufsbezeichnungen, um Formulierungen in Bewerbungen, um die richtige Wortwahl in Anträgen und Formularen, um das Verstehen der Bedeutung hinter den Worten in Zeugnissen. Selbst bei der Wortwahl in Todes- und Dankanzeigen wurden die Sprachberater um Hilfe gebeten.

Mitte der 90er Jahre noch stellte Kühn „eine Mischung von tradierten Wendungen im neuen Diskurs“ fest. Alte kommunikative Verhaltensweisen wurden auf strukturell vergleichbare modifiziert übertragen, was zu einem „gemischten Sprachgebrauch“ führte. Das Tempo des Anpassungsprozesses variierte gruppenspezifisch: Neue Führungskräfte übernahmen und verwendeten neue Muster passiv und aktiv sehr schnell. Auch wer auf eine Arbeitsstelle im Westen Deutschlands wechselte oder in einem gemischten Team aus Ost- und Westdeutschen arbeitete, bemächtigte sich schneller des Neudeutschen, die Jungen eher als die Alten, die Aktiven eher als die Passiven.

Doch auf westdeutscher Seite hat seinerseits Manfred Hellmann auch beobachtet, dass die gesamtdeutsche Sprache durch „das Ostdeutsche“ bereichert wurde. „Orientieren auf“, „angedacht“ oder „abgenickt“, einst im Westen ungebräuchliche Worte, seien längst zum Gemeingut geworden. Und amüsiert berichtet Hellmann, dass er auf einer Speisekarte in Trier gar den tief im DDR-Bürokratendeutsch wurzelnden Begriff „Sättigungsbeilage“ gefunden habe.

Seine Landsleute erinnert Hellmann an eine sprachliche Sünde der 80er Jahre, hinter der sich ein politisches Grundverständnis verbarg: Damals, bei seinen Messeaufenthalten in Leipzig, habe er mit zunehmendem Befremden registriert, dass die westdeutschen Messebesucher ihre Rückkehr nach Hause mit den Worten ankündigten: „Ich fahre morgen nach Deutschland zurück“ – obwohl sie sich mitten in Deutschland befanden. „Das kollektive Wir-Gefühl der Westdeutschen schloss seit Mitte der 80er Jahre die Ostdeutschen nicht mehr ein“, erinnert sich Hellmann, die Wiedervereinigung sei abgeschrieben gewesen. Für ihn ist deshalb auch nicht verwunderlich, dass sich die Deutschen mit der Einheit in den Köpfen so schwer taten.

Kühn und Hellmann sind sich einig, dass der Prozess der Sprachanpassung zwischen Ost und West seit einigen Jahren abgeschlossen ist. Zwar sind nach Hellmanns Ansicht „noch immer vorhandene Mentalitätsunterschiede an der Wortsemantik und den Wortkonnotationen ablesbar“. Doch gebe es „kaum noch Wortschatzunterschiede, die verständigungserschwerend sind“. Insgesamt hätten Ost-West-Sprachunterschiede mittlerweile den gleichen Rang wie Nord- Süd-Unterschiede. Kühn bestätigt: „Die hochfrequente DDR-Lexik in der Alltagssprache ist weg.“ So verwundert es auch nicht, dass sowohl die Ost-Professorin als auch der West-Experte keinen nennenswerten ostdeutschen Spracheinfluss zu erkennen vermochten, als Angela Merkel an die Spitze der Bundesregierung rückte. Nach Merkels erster Regierungserklärung im Herbst 2005 und später noch einmal nach ihrer Neujahrsansprache wurde in einigen Medien vermerkt, sie habe den vertrauten DDR-Ton in die Bundespolitik eingebracht. Die beiden Sprachwissenschaftler wollen das nicht bestätigen. Immerhin räumt Hellmann ein, dass ihn Merkels Sprachstil zwar nicht so sehr an die alte DDR, dafür aber an die Bürgerbewegungen der Wendezeit erinnere. Das in ihren Reden häufig beschworene „Wir-Gefühl“ folge aber weniger einem nostalgischen Impuls, sondern sei vielmehr ein Reflex auf eine derzeit vorherrschende Stimmungslage in der Bevölkerung. Ingrid Kühn entdeckt in Merkels Sprache eine „neue Offenheit“, die auch auf einen anderen Politikstil hindeute. Das habe durchaus mit Merkels Ost-Mentalität zu tun, meint sie. Und das könne für die Politik ja nur gut sein, sagt die Hallenserin.

Einheit hin, Angleichung her – ich behaupte, in der Kneipe noch immer den Wessi vom Ossi unterscheiden zu können. Der Ostdeutsche gibt seine Bestellung mit den Worten auf: „Ich hätte gern…“, oder er formuliert sein Anliegen gar in Frageform: „Kann ich bitte das und das bekommen?“ Der Westdeutsche sagt: „Ich bekomme…“ Da steckt wohl noch viel unterschiedliche Sozialisation drin: Auf der einen Seite das Konjunktivische aus der Zeit des Mangels (es könnte ja sein, es gibt nicht das, was ich gern hätte) und die verschämte Unterordnung unter das Diktat des Kellners – oder jedes anderen, der Herr über ein begehrtes Angebot war. Auf der anderen Seite der kategorische Imperativ von jemandem, dem es nie wirklich an etwas fehlte und der einfach nur ordert, was ihm zusteht – weil er es hinterher ordentlich bezahlt.

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