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Porträtgalerie von Marlene Dumas mit dem Titel „Betrayal“ von 1994.

© © Marlene Dumas, Ph: Emma Estwic, New York

Marlene Dumas im Palazzo Grassi: Der schmale Grat zwischen explizit und subtil

Menschliche Figur und nackte Körper, Posen, Gebärden und Porträts sind ihre Motive. In Venedig stiehlt die niederländische Malerin den männlichen Kollegen damit die Schau.

Von Dorothea Zwirner

Schon im Vorbeifahren auf dem Canale Grande lockt das Ausstellungsplakat eines küssenden Paars in extremer Nahsicht in die Einzelausstellung von Marlene Dumas im Palazzo Grassi. „Kissed“ heißt das kleine Bild von 2018, das im Treppenaufgang des Mezzanins den Auftakt bildet für eine beeindruckende Soloshow mit über 100 Werken aus der Pinault Collection sowie Leihgaben aus zahlreichen Museen und Privatsammlungen über beide Etagen des Palazzos.

Auf dem fast bildfüllenden Gesicht der Frau zeichnet sich der Himmel wie eine durchlässige Gefühlslandschaft ab. Trotz der extremen Nahsicht und Verführungskraft des Motivs treten erst beim genauen Hinschauen die beiden Profile deutlicher hervor, die im leidenschaftlichen Kuss wie in einem Vexierbild verschmelzen.

Im Verfließen der Grenzen, wie es zum Wesen des Kusses gehört, zeigt sich eine programmatische Analogie zum Wesen der Kunst von Marlene Dumas. Denn in der Nahsicht geht jedes ihrer auch noch so expliziten Motive in eine Malerei der Verflüssigung über, die – ob mit Tinte auf Papier oder Öl auf Leinwand – das Motiv bestimmt und nicht umgekehrt.

Schönstes Beispiel und ein wahres Kleinod ist das Bild „Magnetic Fields“ von 2008, das nur den Ausschnitt eines mit Schamhaaren bedeckten Venushügels in Seitenansicht zeigt, bei dem im Unterschied zu Courbets berühmtem „Ursprung der Welt“ von 1866 Figuration und Abstraktion zusammenfallen. Darüber wölbt sich ein wie mit magnetischen Teilchen aufgeladener Bildraum, in dem die Nähe zwischen erotischer und ästhetischer Wirkung geradezu spürbar wird.

Ich wünschte meine Bilder wären wie Gedichte. Gedichte sind wie Sätze, die ihre Kleidung abgelegt haben.

Marlene Dumas, Malerin

Mit expliziten Motiven beginnt denn auch der Rundgang: Ein Mann im Profil, der nach unten schauend seine Erektion betrachtet, und eine Frau, die ihre Beine in die Luft streckend ihr Hinterteil präsentiert, sind beide von Porno-Magazinen inspiriert. Das aufreizende Paar „D-rection“ und „Turkish Girl“ von 1999 gibt die Richtung vor, die auf einem schmalen Grat zwischen schamloser und schonungsloser Darstellung verläuft.

Die menschliche Figur und der nackte Körper, seine Posen, Gebärden und Porträts sind die Motive, in denen Dumas die großen Menschheitsthemen und -gefühle verhandelt: Liebe und Tod, Sexualität und Gewalt im Spannungsfeld von Privatheit und Öffentlichkeit, Geschlecht und Rasse.

Nacktheit und Entblößung fungieren bei ihr im buchstäblichen wie im metaphorischen Sinn, der eine Analogie zwischen der Leinwand als Bildoberfläche und der menschlichen Haut erlaubt. Oder wie es die Künstlerin selbst formuliert: „Ich wünschte meine Bilder wären wie Gedichte. Gedichte sind wie Sätze, die ihre Kleidung abgelegt haben.“

„Pasolinis Mutter“ von Marlene Dumas, 2012.

© foto peter cox eindhoven

In diesem Sinne zeigt der horizontale Akt „The Particularity of Nakedness“ von 1987 (in Reminiszenz an Hans Holbeins Leichnam Christi) den Künstler Jan Andriesse, Dumas damaligen Liebhaber, späteren Partner und Vater ihrer Tochter Helena. Diese erscheint in dem ikonischen Bild „The Painter“ von 1994 als nacktes Kind, die Hände mit roter und blauer Farbe bedeckt, frontal und überlebensgroß, verletzlich und stark zugleich wie Dumas Muse oder Alter-Ego.

Die Mischung aus intimer Nahsicht und provokantem Sujet beruht nicht zuletzt auf Dumas’ Verwendung von Vorlagen – seien es Bilder aus Zeitungen, Magazinen, Pornos und Filmen oder selbst gemachte Polaroids und Filmstills. Im Bewusstsein für die vorgeformte Wirkung medialer Bilder bezeichnet sich Dumas selbst als eine Künstlerin, „die Bilder aus zweiter Hand und Gefühle aus erster Hand benutzt“.

In den Bildern der 1953 in Cape Town, Südafrika geborenen Künstlerin, die unter dem Apartheitsregime aufwuchs und studierte, bis sie 1976 nach Amsterdam ging, mischen sich die persönlich-biographischen mit den soziopolitischen Aspekten ihres Lebensweges. So führt „The White Desease“ von 1985 die Anmaßung weißer Suprematie im Porträt einer Hautkrankheit vor Augen, um die Rassendiskriminierung nicht nur in ihrer Heimat anzuprangern.

„Fingers“, von Marlene Dumas, 1999.

© © Marlene Dumas

Aber auch das Aufbegehren gegen die Ungleichbehandlung der Geschlechter, das Flüchtlingsdrama im Mittelmeer, den Nahostkonflikt und die Homophobie fließt in ihre Bilder ein wie Inspirationen aus der Kunstgeschichte und Literatur, von denen ihre jüngsten Illustrationen zu Shakespeares „Venus und Adonis“ zu sehen sind.

Von Anfang an beherrscht Dumas meisterlich das Genre des Porträts mit Bildnissen ihrer Familie, Freunde und Liebhaber, ihrer Vorbilder wie Pasolini. Mit ihrer Serie der „Great Men“ von homosexuellen oder bisexuellen Männern reagierte sie 2014 auf der Manifesta in Sankt Petersburg auf das russische Gesetz gegen „Homosexuellen-Propaganda“.

Als Meisterin zeigt sich Dumas in dem angeschnittenen Porträt von „Dora Maar (The Woman Who saw Picasso cry)“ von 2008, die mit ihrem eindringlichen Blick das Klischee der von Picasso verlassenen Geliebten umkehrt und laut Untertitel zu der Frau wird, die Picasso weinen sah.

Auch wenn nicht alle späteren Bilder von derselben Qualität sind, zeugen sie noch immer von einer Risikofreude, die den Kontrast zwischen dem Expliziten und Subtilen, dem Rohen und Verfeinerten auszuhalten bereit ist. Unter den Parallelausstellungen der diesjährigen Biennale, die vor allem den Künstlerinnen eine Bühne bereitet, nutzt auch Marlene Dumas ihren Auftritt deutlich nuancierter und wirkungsvoller als ihre männlichen Kollegen wie Anselm Kiefer im Dogenpalast, Bruce Nauman in der Punta della Dogana und Ai Weiwei in San Giorgio Maggiore.

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