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Kultur: Martin Kessel: Ein Dichter wider die Zeit

Kaum ein Schriftsteller liebte Berlin so wie Martin Kessel, keiner lebte dort aber so zurückgezogen wie er. Selbst inmitten der Wilmersdorfer Künstlerkolonie rund um den Breitenbachplatz blieb er für sich.

Kaum ein Schriftsteller liebte Berlin so wie Martin Kessel, keiner lebte dort aber so zurückgezogen wie er. Selbst inmitten der Wilmersdorfer Künstlerkolonie rund um den Breitenbachplatz blieb er für sich. Am 14. April 1901 in Plauen geboren, war Martin Kessel 1923 nach Berlin gezogen. Er hatte es sich in den Kopf gesetzt, hier Schriftsteller zu werden - und er wurde es. 1926 lobte man seine literarische Originalität im Rahmen des renommierten Kleist-Preises, 1954 erhielt er den Georg-Büchner-Preis, 1961 bekam er den Berliner Fontane-Preis und im gleichen Jahr das Große Verdienstkreuz. Martin Kessel reagierte mit einem Aphorismus: "Wer Orden nötig hat, beweist nur, dass er sie nicht verdient, und wer sie verdient, hat sie nicht nötig."

Schauplatz Berlin

Trotz dieser Auszeichnungen und seiner Mitgliedschaft in den Akademien von Mainz, München und Berlin war Martin Kessel zeitlebens nur einer vergleichsweise kleinen Leserschaft bekannt. Er war ein unzeitgemäßer Schriftsteller, ein Dichter wider seine Zeit, gleichgültig, ob es die zwanziger Jahre, das "Dritte Reich" oder die Bundesrepublik waren. Martin Kessel starb an seinem neunundachtzigsten Geburtstag in Berlin, dessen "Geist des Pflasters" er so liebte und das ihm die Schauplätze für seine Romane lieferte. Bis heute ist sein Name für Eingeweihte und dank einer Neuveröffentlichung des Schöffling-Verlages auch für viele neue Leserinnen und Leser mit einem Buchtitel verbunden: "Herrn Brechers Fiasko".

Nach "Betriebsamkeit. Vier Novellen aus Berlin" von 1927 kreiste auch dieser Roman um den tragikomischen Konflikt zwischen dem, was Menschen sich ersehnen, und dem, was ihnen das Leben tatsächlich bringt. Nicht nur literarisch verstieß das Buch gegen Konventionen. "Tristram Shandy" und Gogols "Tote Seelen" hatten Kessel zu einem fulminanten Erzählstil ermutigt. Sein Roman erschien im November 1932. Ein paar Monate später war in Deutschland kein Platz mehr für ungewohnte Formen des Erzählens: ein Fiasko für den Nachwuchsautor. Doch immerhin veröffentlichte Kessel in Nazi-Deutschland drei Bücher. Alle drei erschienen auch nach 1945 ohne große Korrekturen. Mehr noch: In seinem 1940 veröffentlichten Gedichtband "Erwachen und Wiedersehen" steckte inmitten romantischer Verse und scheinbar harmloser Reime die Ermunterung zum Widerstand. Martin Kessel war Berlin und er war sich selbst treu geblieben: ein Einzelgänger mit Zügen seiner Romanfigur Max Brecher.

Worum geht es in "Herrn Brechers Fiasko"? Um alles, besonders um das geistige Klima unter Angestellten. Sie waren in der Weimarer Republik zu einer wirtschaftlich wie politisch maßgeblichen Sozialschicht herangewachsen. "Herrn Brechers Fiasko" erzählt von Anpassung und Aufbegehren, von Karriereträumen, Eitelkeiten, Gemeinheiten und dem, was man heute "Mobbing" nennt. Kessels Zeitroman aus den frühen dreißiger Jahren ist merkwürdig zeitlos. Nichts, was nicht bis in unsere Tage hinein das Betriebsklima von Großraumbüros hinauf zur Chefetage prägen würde.

Die Potenz des Fiaskos

Der Roman verzichtet auf eine lineare Handlung und rückt die schicksalhafte Entwicklung einzelner Figuren samt ihrem komplizierten Beziehungsgeflecht in den Mittelpunkt. Martin Kessel blickt seinen Protagonisten in die Köpfe und in die wunden Seelen. Das war neu, trotz aller Angestellten-Prosa jener Jahre, von Josef Breitbachs "Rot gegen Rot" und Erik Regers "Union der festen Hand", über Siegfried Kracauers "Die Angestellten" bis hin zu Irmgard Keuns "Kunstseidenem Mädchen".

Sein Freund Erich Kästner hatte Kessels Büro- und Berlin-Roman 1932 zur Deutschen Verlagsanstalt vermittelt. Zur Unzeit, wie erwähnt. Eine Neuauflage im Jahr 1956 passte ebenfalls nicht in die Zeit. Mit Deutschland sollte es aufwärts gehen, das Fiasko hoffte man hinter sich zu haben. Bleibt zu hoffen, dass die Neuauflage des Frühjahrs 2001 den Nerv der Zeit trifft. Ein wenig resigniert, meinte Kessel 1973 allerdings: "Und so warte ich denn auch heute noch auf den richtigen Zeitpunkt - übrigens durchaus sicher und unverdrossen, und auch nicht ohne Ironie. Vor allem warte ich auch auf die Einsicht der hohen Herren Kritiker und Interpreten. Auf dass sie nämlich, statt sich in landläufigen Schematismen zu ergehen, vielleicht auch einmal den Grips aufbringen, um über die bloß soziologischen Faktoren hinaus zu sehen, indem sie die schillernde Potenz des Fiaskos begreifen."

Michael Bauer

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