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Kultur: Massimo Cacciari hält die Eröffnungsrede

Der letzte Traumberuf in unserer dem Untergang geweihten Welt ist die Stelle des Bürgermeisters von Venedig. Seitdem der Posten des Kaisers von China nicht mehr besetzt wird und einem niemand ernsthaft raten kann, die amerikanische Präsidentschaft anzustreben, gibt es nichts Verlockenderes, als sich in prunkvoller Umgebung der Taubenplage zu widmen, den Zustrom von Touristen zu regeln und das Versinken der Stadt im Meer weiter hinauszuschieben - alles Metaphern für Europa.

Von Gregor Dotzauer

Der letzte Traumberuf in unserer dem Untergang geweihten Welt ist die Stelle des Bürgermeisters von Venedig. Seitdem der Posten des Kaisers von China nicht mehr besetzt wird und einem niemand ernsthaft raten kann, die amerikanische Präsidentschaft anzustreben, gibt es nichts Verlockenderes, als sich in prunkvoller Umgebung der Taubenplage zu widmen, den Zustrom von Touristen zu regeln und das Versinken der Stadt im Meer weiter hinauszuschieben - alles Metaphern für Europa. Die Ehre dieses Traumberufs genießt zur Zeit Massimo Cacciari. Sie lässt sich nur noch steigern, indem man zum Festredner bei der Eröffnung der Leipziger Buchmesse bestellt wird. Wer könnte besser über das diesjährige Thema "Europa in der Zeitenwende" reden als der grundsympathische Cacciari, der sich auch als linker Abgeordneter im Europaparlament einen Namen gemacht hat? Das Problem mit ihm besteht höchstens darin, dass er genial ist. Er ist nicht nur Politiker, sondern auch Professor für Philosophie und Autor mehrerer Bücher (unter anderem über den "Archipel Europa"), die selbst Leute seines Fachs kaum verstehen. Aber mündlich soll ja alles besser sein.

Auftritt Cacciari. Nach all den pflichtbewussten Grußadressen aus Politik und Buchbranche tritt einer ans Pult im Neuen Gewandhaus, der schon allein durch seine brüchige Stimme einen anderen Ton in die Veranstaltung bringt - und schafft es binnen weniger Minuten, alle Vorurteile zu bestätigen, die man gegenüber Philosophen hegen kann. Wir erfahren: Europa ist keine natürliche Form, es ist ein Ziel, anwesend nur in seiner Abwesenheit, ein semper adveniens, etwas, das immer erst noch kommt, eine Idee. Wir erfahren auch: Grenzen sind dazu da, überschritten zu werden. Identität entsteht durch Differenz - und Einheit der Zweiheit von Vernunft und Sprache erst durch Austausch. Und wir erfahren schließlich, wenn wir die Sache mit der augustinischen Aporie und der mythologischen Herleitung von Europa beiseite lassen, dass wir uns zum Hüter einer Sprache aufschwingen sollen, die sich weniger um die Beherrschbarkeit der Welt kümmert als um die poiesis, das wirkende Wort. Kurz: Wir erfahren nichts.

Cacciari betreibt Philosophie als Luftnummer. Sein Denken begnügt sich mit rhetorischen Taschenspielertricks, die Motive und Figuren von Nietzsche über Heidegger bis zu Derrida zusammenklaubt und zum großen Remix verquirlt. Und nirgends dämmert eine Wirklichkeit.

Vor einem Jahr war Bulgarien das Thema der Leipziger Buchmesse, ein Land, das aus der europäischen Wahrnehmung schon wieder verschwunden ist - auch wenn es dieses Jahr mit einem kleinen Stand vertreten ist. Am Eröffnungsabend waren US-Bomber im Anflug auf Jugoslawien, um den Völkermord im Kosovo zu sanktionieren. Schon damals waren die benachbarten Bulgaren besorgt bis empört. Um dieses Europa, diesseits philosophischer Beliebigkeiten, geht es.

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