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Kultur: Mein Cousin Balthus

Peter Spiro erinnert an seinen Vater, den Maler Eugen Spiro – und an eine Berliner Kindheit in den Zwanzigern

Der verrückteste Auftrag kam, als eigentlich schon gar keine Aufträge mehr kamen. Der Berliner Maler Eugen Spiro (1874–1972), in den zwanziger Jahren gefragter Porträtmaler und als Secessions-Präsident Kontrahent von Max Liebermann, war von den Nationalsozialisten mit einem Mal- und Ausstellungsverbot belegt worden. Und hatte mit einem minder begabten Kollegen einen Deal abgeschlossen: Dieser kam mit vorskizzierten Bildern und Fotografien seiner Auftraggeber zu ihm, Spiro malte nach den Vorlagen das passende Gesicht in die Porträts. Der Erlös wurde geteilt. Eines Tages kam ein Auftrag vom Jagdclub Grunewald: Sie wünschten für ihre Clubräume ein Adolf-Hitler-Porträt. So kam es, dass von Spiro, den die Nationalsozialisten aus der Kunstwelt verbannt hatten, ein Adolf-Hitler-Porträt entstand.

Das ist nur eine der Anekdoten, die der inzwischen über neunzigjährige Sohn Peter Spiro von seinem Künstler-Vater erzählt. Eine andere geht so: Die Kunstsammlerin Baby Goldschmidt-Rothschild wollte ihre bedeutende Sammlung vor den Nationalsozialisten retten – und bestellte bei Eugen Spiro Duplikate der Bilder. So malte dieser Van Goghs „Arlésienne“ und Manets „Kleiner Fischer mit Hund“ – das hübsche Fischergesicht hatte er wunschgemäß mit dem Antlitz von Babys kleinem Sohn Billy ersetzt. Die Kopien wanderten zurück in Babys Berliner Wohnung Unter den Linden, die Originale wurden zusammengerollt von Dienstboten über die Grenze nach Frankreich gebracht. Baby Goldschmidt-Rothschild war es auch, die der Familie Spiro nach ihrer Flucht nach Paris Unterschlupf in einer ihrer Villen gewährte.

Eugen Spiro überlebt die Nazi-Zeit nach einer Flucht über Marseille und Lissabon in die USA und kehrt nach dem Krieg nicht nach Deutschland zurück. Heute ist er, der zu den gefragtesten Malern der Weimarer Republik gehörte und in dessen Wohnung in der Reichsstraße die Berühmten ein und aus gingen, weitgehend vergessen – wie viele Exilkünstler. Es schwingt viel Bitterkeit mit, wenn sein Sohn Peter schreibt, zwar habe sich Eugen Spiros Geburtsstadt Breslau nach 1989 mit Ausstellungen und einer Büste im Rathaus des großen Sohnes der Stadt erinnert, doch in der eigentlichen Heimat Berlin geschehe nichts: „Keine Straße ist nach ihm benannt, keine Gedenktafel erinnert an ihn, die letzte Retrospektive liegt über vierzig Jahre zurück.“

Als Peter nach einer Berlin-Reise seiner Mutter berichtet, wie wenig sich verändert habe, die Wohnung in der Reichsstraße existiere noch, auch der Ullstein-Verlag sei wieder groß, erwidert diese erregt: „Ja, das gibt es wieder, und das gibt es wieder, alles gibt es wieder, nur uns gibt es nicht wieder“. Und so heißt nun das Buch, mit dem Peter Spiro sich an seinen Vater, seine Heimatstadt Berlin und seine Jugendzeit erinnert: „Nur uns gibt es nicht wieder“. Der verdienstvolle Kölner Verleger Thomas B. Schumann hat es in seiner dem Gedächtnis vergessener Exilkünstler gewidmeten Edition Memoria herausgebracht.

Natürlich ist in Spiros Buch viel von Prominenz die Rede, von den Künstlern und Intellektuellen Berlins der Weimarer Zeit: Man verkehrt mit Gerhart Hauptmann, den Künstlerkollegen Franz Heckendorf und Leo von König und dem Potsdamer Mäzen H. C. Starck. Eugen Spiro war in erster Ehe mit Tilla Durieux verheiratet, seine Mutter Irma Saenger-Sethe war gefragte Konzertviolinistin, eine seiner Schwestern, Elisabeth Dorothea, nannte sich Baladine, korrespondierte mit Rainer Maria Rilke und war mit dem französischen Intellektuellen Erich Klossowski verheiratet. Sohn Peter spielt als Kind mit seinen älteren Cousins Balthus und Pierre Soldat und Ritterburg. Sowohl Baladine als auch Balthus und Pierre als Kinder hat Eugen Spiro in wunderbaren Porträts verewigt.

Doch Peter Spiros Erinnerungen sind viel mehr als eine Künstlerbiografie und ein nachgetragener Liebesdienst an den in Deutschland vergessenen Vater. „Nur uns gibt es nicht wieder“ ist ein einzigartiges Zeitdokument über die Berliner Zwischenkriegszeit, die guten Jahre der Weimarer Republik und den geistigen Zusammenbruch danach. Lebendig und unverkrampft erzählt der 1918 geborene Peter Spiro von seiner Kindheit im Berlin des aufkommenden Nationalsozialismus, erzählt von einem assimilierten Judentum, das sich nicht vorstellen konnte, dass ihr privilegiertes, glückliches Leben in nur wenigen Jahren so komplett verändert sein würde. Wenn auch literarisch weniger anspruchsvoll, gehören diese Erinnerungen in eine Reihe mit den Kindheitserinnerungen von Walter Benjamin, Peter Gray, Sebastian Haffner und Nicolaus Sombart.

Peter Spiro wächst in Charlottenburg, im Westend auf, eine typische Kindheit im gehobenen Bürgertum mit Kindermädchen und Haushälterin, er erhält evangelischen Religionsunterricht, geht auf die aufgeklärte Herder-Schule in der Bayernallee und unterscheidet sich nicht von seinen Klassenkameraden. Man spielt mit Zinnsoldaten den Ersten Weltkrieg nach, die Märklin-Eisenbahn dient für Truppentransporte. Das Kind malt Bilder von Flak und Panzern, lernt in der Schule vom „Schandvertrag von Versailles“ und dem „Erbfeind Frankreich“. Fast die Hälfte der Schüler in seiner Klasse gelten nach 1933 nach Nazidoktrin als „nichtarisch“, doch alle grüßen sie mit dem Hitlergruß und bewundern einen Klassenkameraden, der im Propagandafilm „Hitlerjunge Quex“ die Hauptrolle spielt. Auch die Lehrer, nationalsozialistisch gesinnt oder nicht, sind weitgehend fair. Als die Familie Spiro 1935 Berlin doch verlässt, Peter ist gerade 15, weint er im Taxi zum Bahnhof und wiederholt in einem fort: „Wir kommen sicher wieder, wir kommen sicher wieder“, bis auch der Taxifahrer ganz gerührt ist.

Peter Spiro ist wiedergekommen, immer wieder. Längst lebt er mit Familie in Großbritannien, wohin ihn das Studium schon 1936 verschlagen hat. Doch immer noch machen ihn deutsche Volkslieder glücklich, denkt er zurück an die Kindheitsferien auf dem Familiensommersitz in Hiddensee. Der Sethe-Hof, das Haus seiner Großmutter, kurz vor der Auswanderung in Eile verkauft und vom Käufer wohl nie richtig bezahlt, wurde nach dem Krieg nicht restituiert, ein Prozess verlief im Sande. Die übliche, traurige Geschichte – und glücklich, wer wie Peter Spiro so abgeklärt schreiben kann: „Der Verlust wurmt mich nicht. Nur hätte ich den Sethe-Hof und Kloster vor meinem Ableben gern noch einmal gesehen, vielleicht den K.-Nachfahren (K. war der damalige Käufer, Anm. d. Verf.), die das Haus heutzutage als natürlichen Familienbesitz betrachten, das Firle- und das Spiro-Zimmer gezeigt. Lebt meine Kindheitsliebe Erika Hirsekorn vom Gasthof in Klosters Hauptstraße noch? Ist der Ring Tannen, mit denen meine Großmutter den Sethe-Hof geschützter machen wollte, doch noch hochgewachsen? Ich träume noch heute regelmäßig, in Kloster und auf dem Sethe-Hof zu sein – ebenso wie auf H. C. Starcks Potsdamer Anwesen in glücklichen Tagen.“

Peter Spiro: Nur uns gibt es nicht wieder. Erinnerungen. Edition Memoria, Hürth 2010, 160 Seiten, 29,80 €.

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