zum Hauptinhalt

Kultur: Mein größter Feind bin ich

Gunter Gabriel war ein Star. Dann verlor er seinen Plattenvertrag, machte 9,5 Millionen Mark Schulden und wurde Alkoholiker. Jetzt arbeitet er an seinem Comeback

Gunter Gabriel braucht dringend eine Wurst. Erst blieb sein 2,8-Tonner-Wohnmobil, mit dem er auf Promotion-Tour unterwegs ist, irgendwo zwischen Cottbus und Berlin mit einem Motorschaden liegen, dann steckte der Mietwagen, in den er umgestiegen war, im Berliner Stau. Den vereinbarten Treffpunkt, Franky’s Curry Station am S-Bahnhof Halensee, erreicht der Sänger mit vierzigminütiger Verspätung und mächtigem Hunger. Sein Händedruck ist fest, er trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift „Held der Arbeit“, darüber ein schwarzes Cordhemd, eng sitzende schwarze Jeans, die Füße stecken in spitz zulaufenden Krokodillederstiefeln. „Darf ich Euch zu einer Currywurst einladen?“, fragt er, „hier gibt es die beste, die man in Berlin kriegen kann.“

Wir haben uns mit Gunter Gabriel an Franky’s Curry Station verabredet, um hier eine Reise in die Vergangenheit zu beginnen. Vor 30 Jahren – von 1971 bis 1984 – hat der Sänger gleich um die Ecke gewohnt, damals war er Stammgast beim Imbiss. „Ich war jede Nacht auf Piste, da wurde die Bude zu einer festen Anlaufstation für mich auf dem Heimweg“, sagt er und verschlingt zwei Stücke Wurst auf einen Bissen. „Das war die Zeit meiner ersten Hits. Ich konnte in Berlin hingehen wo ich wollte, in jeder Pinte und jeder Disco war für mich Freisaufen angesagt.“ Noch ein Happen Wurst. „Drüben auf der anderen Straßenseite stand damals noch Omis Schnapshaus. War immer voll.“ Die Wurst ist weg. 1975 hat Gabriel dem Ort ein Lied gewidmet: Es ist drei Uhr früh und es ist Freitagnacht / in Franky’s Curry Station, / Die Mädchen, die streichen die Röcke sich glatt, / und die Männer sind müde und schlapp. / Die Neonreklamen gehen aus in der Stadt, / und die Straßen, die schminken sich ab. / Nur hier ist noch immer was los, / und die Luft riecht nach Hühnerbouillon.

Der Imbiss als Heimat

Ein Bretterbüdchen ist die Curry Station schon lange nicht mehr. In den späten 80ern zog der Imbiss in einen Neubau mit Wänden aus poliertem Granit und einer eleganten Metallüberdachung. Und Franky, der es im alten Westberlin zu einem kleinen Fast-Food- und Kneipenimperium gebracht hatte, starb vor einem Jahr bei einem Unfall. Er verbrannte in seinem Penthouse. Der Gastronom im Ruhestand muss mit einer brennenden Zigarette eingeschlafen sein.

Abfahrt. Gunter Gabriel fädelt sich mit seinem Leihwagen in den Spätvormittagsverkehr auf dem Kurfürstendamm ein. Auf der Rückbank liegt sein Gitarrenkoffer. Gabriel war ein Leben lang auf Achse, vom Unterwegssein handeln auch viele seiner Songs, die „Ich hab’ ’nen 30-Tonner-Diesel“, „Mein Laster ist mein Laster“ oder „Ich bin CB-Funker“ heißen. Er kennt jede Raststätte an der deutschen Autobahn, alljährlich sitzt er 150 000 Kilometer lang hinter dem Steuer seines Wohnmobils, insgesamt wird er im Laufe seiner Karriere „so vier bis fünf Millionen Kilometer“ verfahren haben. „Das Leben auf der Straße und die damit verbundene Einsamkeit ist der rote Faden meiner Biografie“, sagt er und setzt den Blinker. Katharinenstraße 9. Ein herausgeputztes Mietshaus, auf dem Messingschild am Eingang stehen die Namen von Rechtsanwälten, Ärzten und Versicherungsvertretungen. Im Hinterhof zeigt Gabriel an der Fassade hoch: „Da oben im zweiten Stock habe ich eine ganze Etage bewohnt.“ Es waren Jahre, in denen sich die Boheme der Nach-Apo-Ära mit den Stars und Sternchen der Schlager-Szene mischte, und wenn man den Erzählungen des Sängers glaubt, war es ausgerechnet seine Wohnung, in der diese beiden Welten aufeinander trafen. Stefan Waggershausen lebte nebenan, Christian Anders ließ sich von seinem Chauffeur im goldenen Rolls Royce vorfahren, bei Partys spielte ein junger Musicaldarsteller namens Konstantin Wecker Klavier und verschwand zwischendurch mit Mädchen im Schlafzimmer.

Gunter Gabriel, der 1942 in Bünde/Westfalen geboren wurde und in Hannover Maschinenbau studierte, hatte einen Songschreiber-Vertrag mit dem Hansa-Verlag in der Tasche, als er nach Berlin kam. Die Schlagerindustrie erlebte ihre Spätblüte, ein Heer von Komponisten und Textern war damit beschäftigt, wechselnden „Interpreten“ Stücke auf den Leib zu schreiben oder Hits aus Übersee zu adaptieren. Gabriel arbeitete für den Produzenten Thomas Meisel, im gleichen Team war auch Dieter Bohlen beschäftigt. „Morgens um 10 kam ich ins Büro, da sagte der Chef zu mir: ,Es gibt da einen neuen Song in Amerika, der hat eine tolle Atmosphäre. Hier hast Du eine Musik, schreib was Ähnliches dazu.’ Dann drückte er mir eine Cassette in die Hand und am nächsten Tag musste das Stück fertig sein. Und oft habe ich mich dann die ganze Nacht abgequält, einen Text auf die Musik hinzukriegen.“ Seinen ersten Song dichtete Gabriel für Rex Gildo, er hieß „Nimm meine Hand, Barbara“. Später folgten 800 weitere Titel, darunter Erfolge wie „Ich trink auf dein Wohl, Marie“ (Frank Zander), „Ich lass’ dir deinen Kochtopf, lass du mir mein Bier“ (Peter Alexander) oder „Worte, die ich leider nie gesagt“ (Roland Kaiser), der größte Hit gelang ihm mit dem logisch-paradoxen Refrain „Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst“ (Juliane Werding).

Was macht einen guten Song aus? „Er muss Tiefe haben, Wärme, Trauer, Blues“, sagt Gunter Gabriel. „Die Titelzeilen müssen den Hörer sofort anspringen. So wie bei ,The Door’ von George Jones, einem meiner Lieblingssongs. Der singt da: ,Ich habe die Atombombe über Hiroshima gehört, ich habe die Schüsse auf Kennedy gehört, aber nichts hat mich so erschreckt wie das Geräusch der zufallenden Tür, als du mich verlassen hast.’ Wham! Das ist ’ne Zeile, die dir mit voller Wucht in die Fresse haut! Ist das geil!“ Gabriel benutzt gerne Wörter wie „geil“, „angesagt“ oder „Fresse“, er kokettiert mit dem Prolo-Image.

Seine Bassstimme wird vor Begeisterung immer lauter, er scheint jetzt zu predigen. „Ein anderes Beispiel: ,Du kannst schlafen, während ich fahr.’ Was für eine geile Zeile, ist von mir. Man will wissen, was sich für eine Geschichte dahinter verbirgt. Ist das eine Männer- oder eine Frauenzeile? Eine Frauenzeile, das muss eine Frau singen. Du kannst mir vertrauen, ich bring dich nach Hause. Das heißt im übertragenen Sinn: Ich bring dich gut durchs Leben.“ Den Song dazu gibt es noch nicht, nur diese eine Zeile in den Zettelkästen seines Textarchivs, das der Sänger „meine Altersvorsorge“ nennt und in dem 30 Meter langen Hausboot verwahrt, auf dem er im Hafen von Hamburg-Harburg lebt.

Songs schreiben, sagt Gabriel, das kann der Himmel sein, aber auch die Hölle. Als er 1978 die Texte für Peter Maffays Album „Steppenwolf“ liefern sollte, war er an einem Tiefpunkt angekommen. „Ich war ausgebrannt, bekam keine Zeile aufs Papier.“ Nach ein paar Wochen reichte Maffay den Auftrag an einen anderen Autor weiter. Private Katastrophen warfen Gabriel zurück. „Immer wenn mich eine Frau verließ, war ich wie paralysiert. Ich konnte saufen und mir Kokain in die Nase ziehen, aber schreiben konnte ich nicht mehr.“ Doch Gabriels Karriere verlief nach dem Stehaufmännchen-Schema. „Dadurch, dass ich immer wieder auf die Schnauze geflogen bin, ist mein Kopf frei geworden. Heute habe ich die Angst nicht mehr, dass ich mein Talent verlieren könnte. Mein Unglück war mein Glück.“

Weiterfahrt über den Kudamm Richtung Zoo. „Hier war das Treibhaus“, sagt Gunter Gabriel am Adenauerplatz. „Mann, was hab’ ich da ’ne Kohle verdaddelt und versoffen.“ Wittelsbacher Straße 18, Sitz der „BMG Berlin Musik GmbH“. Gabriel stiefelt durch ein holzvertäfeltes Foyer und über endlose Flure, in denen Goldene Schallplatten neben Wolfgang-Petry-Plakaten hängen. „Ist Meyni da?“, fragt er eine Sekretärin, die wortlos nach hinten weist. Dort biegt gerade ein drahtiger Mann mit graumeliertem Vollbart aus der Tür. Meyni trägt eine Baseballkappe mit „NY“-Aufdruck. „Mensch, wie lange haben wir uns nicht gesehen, zehn Jahre, 15 Jahre!?“ Schulterklopfen zur Begrüßung. Reinhardt „Meyni“ Meynen hat es in dreißig Jahren vom „Produkt-Assistenten“ zum für das Repertoire zuständigen „A & R-Manager“ gebracht. „Der Gunter war unser bestes Pferd im Stall“, sagt er. „Ach was“, entgegnet Gabriel, „ich gehörte zur B-Auswahl. Ihr habt mich jedenfalls so behandelt“.

Zu hässlich fürs Singen

Als er die Songs, die er schrieb, auch selber singen wollte, wurde Gunter Gabriel ins Büro seines Produzenten Thomas Meisel zitiert. „Er zog mich zu einem Spiegel hinter seinem Schreibtisch und fragte: Du willst singen? Du glaubst doch nicht, dass die Leute Platten kaufen wollen von einem Typen, der so aussieht.“ Die Kränkung muss tief gewesen sein, sie ist noch heute zu spüren. Er nahm dann trotzdem Platten auf, und die Leute haben sie gekauft. Gleich die Debüt-Single „Hey Boss, ich brauch mehr Geld“ wurde 1974 ein Nummer-1-Hit, Gabriel bekam als „bester Nachwuchssänger“ eine „Goldene Europa“ und avancierte zum Stammgast der „Hitparade“. Einen Typen wie ihn hatte es noch nicht gegeben im deutschen Schlager, das war seine Chance. Gabriel brachte sanfte Sozialkritik in ein Genre, das bis dahin weitgehend apolitisch gewesen war. Seine Plattenfirma vermarktete ihn unter dem Label „Der andere Song“ und druckte auf die Cover, der „Liederboss“ sei ein „anpassungsunwilliger Typ“.

Wir sitzen wieder im Auto und passieren die Urania in Richtung Kreuzberg. Gabriel trommelt mit den Fingern gegen das Lenkrad. Die Erinnerungen haben ihn wütend gemacht. „Du hast denen die Taschen gefüllt und wirst dafür wie Zahnpasta behandelt.“ Der Sänger fühlte sich lange Zeit nicht bloß finanziell ausgenutzt, sondern auch zu wenig respektiert. „Mein Produzent sagte: Mach’ doch wieder so was Kuscheliges wie ,Komm unter meine Decke’. Aber bleib mir mit Deinen Scheißarbeitslosenliedern weg.“ Dabei gibt es nichts, was der ehemalige Schlagerstar so sehr verachtet wie Schlager, schon das Wort findet er „ekelhaft“. Gabriel sieht sich als „Deutschlands einzigen proletarischen Sänger“, mit seinen Liedern will er „eine Lobby schaffen für arbeitende Menschen“.

Für die Kfor-Soldaten in Prizren singt er „Es steht ein Haus im Kosovo“, in Waren an der Müritz empfängt er inmitten von Langzeitarbeitlosen den Kanzler im Wahlkampf, bei warnstreikenden Verdi-Gewerkschaftlern klampft er „Hey Boss, wir brauchen mehr Geld“. Dabei ist der Berufsprotestler keineswegs ein Linksradikaler, er wählt FDP und verehrt Guido Westerwelle als „Politiker mit den besten Lösungsvorschlägen“. Einmal im Monat steht Gabriel an der Raststätte Allerthal West bei Hannover für fünf, sechs Stunden neben den Zapfsäulen der Tankstelle. Er putzt die Scheiben der Autos, die dort halten, misst Ölstände, richtet Scheinwerfer ein. Geld kriegt er nicht dafür, er sieht seine Dienstleistung als „Signal“. Den Arbeitslosen, mit denen er ins Gespräch kommt, sagt er: „Lauft nicht eurer Arbeitslosigkeit davon. Sucht euch irgendeine Aufgabe. Nichts macht dich so fertig wie das Nichtstun.“

Gabriel spricht aus eigener Erfahrung. „Im Prinzip habe ich meine Karriere versemmelt.“ Die Millionen, die der Sänger in den Siebzigerjahren verdient hatte, verlor er in den Achtzigern wieder. 1983 lief sein Plattenvertrag aus, danach „ging alles den Bach runter“. Gabriel hatte in Bauherrenmodelle investiert, ein finanzielles Debakel. Mit dem Geld waren in Kassel, Düsseldorf und Berlin Häuser gebaut worden, die sich als unvermietbar erwiesen. „Das waren Bauruinen, in denen nur die Katzen herumliefen.“ Bauträger und Inneneinrichter klagten bei Gabriel ihre Rechnungen ein. Am Ende hatte er 9,5 Millionen Mark Schulden. „Das war brutal, so eine Situation kann dir das Leben kosten.“

Der Sänger lebte zeitweilig auf der Straße, übernachtete in seinem Wohnmobil auf Parkplätzen, betäubte sich mit Alkohol. Nur durch „Tricks und Verhandlungen“ entkam er der Schuldenfalle. Gabriel hielt sich mit Konzerten und den von der Gema regelmäßig überwiesenen Tantiemen für seine Songs über Wasser. 1993 einigte er sich mit dem letzten Schuldner, der Deutschen Bank. Gabriel gab 220 000 Mark Vorschuss für eine anstehende Tournee an die Bank, die Bank verzichtete dafür auf alle weiteren Ansprüche in Höhe von fast zwei Millionen. „Bei dem Gespräch in der Bankzentrale in Hannover habe ich meinen ganzen Proll rausgelassen. Ich bin auf den Tisch gesprungen und hab’ gebrüllt: Ihr Schweine, wenn Ihr nicht zustimmt, dann knall’ ich Euch durchs Fenster!“ Im Treppenhaus sagte sein Vermögensverwalter nachher: „Gut gemacht.“

Mehringdamm 34. Wir parken auf dem Hinterhof und fahren mit dem Aufzug in den fünften Stock. Gabriel hämmert gegen eine Stahltür, auf der „BKA“ steht. Wo heute Kabarettisten auftreten, war vor dreißig Jahren die „Dachluke“ untergebracht, eine der ersten Berliner Diskotheken. „Dürfen wir kurz reinkommen?“, fragt Gabriel die Frau, die öffnet. „Ich hab’ hier mal gearbeitet.“ Von 1971 bis 1973 hat er sechs Abende pro Woche in der Dachluke Platten aufgelegt, „James Brown, Uriah Heep, die Stones, aber die richtige Stimmung haben wir nur mit Schlagern hinbekommen“. Bis zu tausend Teenager kamen, wenn sonntags die „Hitparade“ nachgespielt wurde, mit Gunter Gabriel in der Rolle von Dieter Thomas Heck. Manchmal brachte er auch seine Gitarre mit und spielte ein paar eigene Songs. „Freiheit ist ein Abenteuer“ – Gabriels Adaption von „Me And Bobby McGee“ – rangierte in den Dachluken-Charts monatelang auf Platz 1. „Das war euphorisierend. Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, dass es was werden könne mit meiner Musik.“ Die Euphorie war schlagartig verflogen, als Gabriel eines Nachts nach der Arbeit in seinem VW an einer Ampel neben einem Porsche hielt. In dem Porsche saß ein fremder Mann – und Gabriels Ehefrau Gabriele. „Das mag wie ein schlechter Witz klingen, aber der Typ war tatsächlich Reifenhändler.“

Gunter Gabriel und die Frauen: eine schwierige Beziehung. Vier Mal war der Sänger verheiratet, auf Dauer gehalten hat keine Ehe. Vor der ersten Scheidung schrieb er sogar einen Song, um seine Frau zurückzuerobern. „Hey Yvonne“, ein Vater-Tochter-Dialog am Telefon: Hey, Yvonne, bestimmt geht Mami abends immer aus? – Nein, Papi, sie ist immer nur mit mir allein zu Haus. – Dann hat sie doch ganz bestimmt ganz heimlich einen Freund? – Nein Papi, das glaube ich nicht. – Hey, Yvonne, dann sag mir, warum weint die Mami? – Du Papi, ich glaube, das liegt an Dir, wenn Du nicht da bist, sind wir beide traurig, denn Du fehlst uns doch so sehr. Mit dem sentimentalen Liedchen ist Gabriel damals auch im Fernsehen aufgetreten, händchenhaltend mit seiner 8-jährigen Tochter Yvonne. Seine Frau war so gerührt, dass sie nach der Sendung noch einmal zu ihm zurückkehrte, für ein paar Wochen.

„Geheiratet habe ich letztlich immer wieder aus Einsamkeit. Ich suchte eine Heimat, einen Menschen, zu dem ich heimkehren konnte. Aber ich war lange nicht fähig, eine Frau wirklich zu lieben. Das musste ich mühsam lernen.“ Wir sitzen in einem Kreuzberger Café, Gunter Gabriel rührt in seinem Tee. Die letzte Ehe – sie hielt von 1992 bis 1994 – war das größte Desaster. Kennen gelernt hatte er Carin über seinen Bassisten, dass sie als Prostituierte arbeitete, erfuhr er erst später. „Es war pervers, aber es war auch reizvoll.“ Gabriel hatte kein Geld und keine Wohnung, bei der Frau fand er Unterschlupf. Sie wohnte in einem alten Bahnhof im Münsterland, er parkte sein Wohnmobil auf dem Grundstück und zog bei ihr ein. „Sie war die perfekte Mutter für mich.“ Gabriel trank zu dieser Zeit drei Flaschen Retsina pro Tag, um für seine Auftritte fit zu sein, begann er, Kokain zu schnupfen. Und im Drogenrausch verlor er immer wieder die Kontrolle über sich. Einmal zertrümmerte er die Wohnungseinrichtung und verfolgte seine Frau mit einem Messer bis in ein Kornfeld. Ein anderes Mal jagte er mit quietschenden Reifen ihrem Wagen so lange hinterher, bis er von der Polizei festgenommen wurde. „Ich wollte sie nicht töten“, versichert er. „Ich wollte sie bloß festhalten.“

Alkohol, Drogen, Gewalt: lauter Fluchtversuche. Gunter Gabriel, so sieht er es heute, ist lange Zeit vor sich selber davongelaufen. „In mir steckt sehr viel Aggressivität, ich muss versuchen, sie umzulenken.“ Seit einem Entzug vor acht Jahren trinkt er Alkohol nur noch in kleinen Dosen, mit seiner Freundin Maria, mit der er seit sechs Jahren liiert ist, streitet er mit Worten, nicht mehr mit Fäusten.

Erziehung mit der Hundepeitsche

„Mein größter Feind war ich“, soll die Autobiografie heißen, die er gerade schreibt. Bei den Recherchen fand er heraus, dass seine Mutter nicht, wie der Vater behauptete, an einer Krankheit gestorben war, sondern an den Folgen einer Abtreibung. Bei ihrem Tod war der Sohn drei Jahre alt, die einzige Erinnerung, die er an die Mutter hat, ist „ein großer schwarzer Wagen mit Pferden, der sie zum Friedhof fuhr“. Der Vater, ein Bahnwärter, ist die Negativfigur in Gabriels Lebenserzählung. Er habe die Mutter zur Abtreibung gedrängt, ein Jahr nach ihrem Tod eine 18-Jährige geheiratet und seine beiden Kinder mit der Hundepeitsche verprügelt. Und als der Sohn ihm erzählte, dass er Musiker werden wolle, habe er bloß gelacht: „Musiker? Aus Dir wird nie was.“ „Meine Probleme“, davon ist er überzeugt, „haben mit der verkorksten Kindheit zu tun.“

Köthener Straße, das Hansa-Studio. Früher haben Iggy Pop, Depeche Mode und U2 hier Platten aufgenommen, und Gunter Gabriels Frau schmierte Leberwurstbrote für David Bowie, „der mochte die so gerne“. Heute kommt einmal im Jahr Reinhard Mey und wenn’s hochkommt auch noch Udo Jürgens. In einem holzvertäfelten Regieraum thront Peter Wagner hinter einem gigantischen Mischpult. Der Toningenieur hat zehn Alben mit Gabriel aufgenommen und stieg später zum Inhaber des Studios auf. „Du musst doch Millionen verdient haben“, sagt Gabriel. „Erstaunlich, dass Du noch ackerst.“ „Mir fällt halt nichts Besseres ein“, erwidert Wagner. Sie tauschen noch ein paar Weißt-Du-noch-Geschichten aus und fallen sich zum Abschied um den Hals. Beim Rausgehen sagt Gunter Gabriel: „Als es mir dreckig ging, kannte der mich nicht mehr.“ Dann steigt er in sein Leihauto und verschwindet in die Nacht.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false