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Melancholie: Magie und Mythos

Die zwanziger Jahre werden wiederentdeckt: Swing-Partys, Stummfilmen und Stadtführungen lassen das Berlin der Vergangenheit wieder auferstehen.

Wer fühlte sich nicht an die gegenwärtige Finanzkrise erinnert, wenn Dr. Mabuse in Fritz Langs gleichnamigem Film auf fallende Kurse wettet? Am Ende des Börsengangs liegen zerfledderte Papiere und Zylinder auf dem Parkett – ein Bild des Jammers. Damals endete die Krise in der Katastrophe. Und trotzdem träumt man auch im heutigen Berlin von den zwanziger Jahren. Es ist gerade die Doppelgesichtigkeit dieser Zeit, die fasziniert: ein Tanz auf dem Vulkan, über alle politischen und ökonomischen Abgründe hinweg.

„Bohème Sauvage“ heißt eine Veranstaltungsreihe der „Gesellschaft für mondäne Unterhaltung“, die einmal im Monat Mode und Kultur der Weimarer Republik wiederaufleben lässt, zuletzt im Wintergarten-Varieté. Es gilt ein strenger Dresscode, wer nicht wenigstens Hosenträger oder Hut aufweisen kann, bekommt keinen Einlass. Die meisten Gäste sind zum Tanzen gekommen: Charleston oder Walzer. Dazu erklingen Swing, Kabarettchansons und Schlager. Und so feiern die zumeist noch jungen Partygänger in den Kleidern ihrer Groß- und Urgroßeltern eine Kultur, die sich einst mit dem neuen Ausgehzentrum am Kurfürstendamm, mit Revuen und Vergnügungslokalen verband. Für einen Abend lässt man die Jeans zu Hause und fühlt sich wie eine Dame oder ein Mann von Welt.

Wer in der Weimarer Republik das Geld hatte, reiste mondän mit dem Automobil an und genoss das Nachtleben. Die Angestellten träumten derweil die Träume der Ufa-Filme. „Wenn ich sonntags in mein Kino geh’“, singt das „Trio Ohrenschmalz“ auf der Wintergarten-Bühne und lässt so eine Zeit auferstehen, in der so mancher einen Himmel voller Geigen halluzinierte, während es ihm selbst am Nötigsten mangelte. „Einerseits waren die zwanziger Jahre eine Zeit, in der viele Menschen verunsichert waren und nicht wussten, wie es weitergeht“, sagt Sänger Julius Hassemer. „Andererseits gab es edle, elitäre Veranstaltungen und wilde Partys mit Nacktdarbietungen und anderen Tabubrüchen. Dieser Mythos macht heute noch den Reiz der Zeit aus.“

Der Stummfilm ist Zeitzeuge dieser Epoche

Michael Bienert kann bestätigen, dass die zwanziger Jahre immer noch boomen. Er hat sich in zahlreichen Publikationen mit der Ära auseinandergesetzt. Sein Buch „Die Zwanziger Jahre in Berlin“ (Berlin Story Verlag, 19,80 €) ist ein Wegweiser zu den Spuren, die die Zeit der Weimarer Republik im heutigen Berlin hinterlassen hat. „Es gibt im Kern“, sagt Bienert, „drei Berlin-Mythen: zwanziger Jahre, Nazizeit, Berliner Mauer. Die zwanziger Jahre sind der einzige Berlin-Mythos, mit dem sich positive Assoziationen verbinden. Deshalb ist es interessant, hieran anzuknüpfen.“ Auch die von ihm konzipierte Stadtführung „Mit Franz Biberkopf durch den wilden Osten“ (www.stattreisenberlin.de) ist immer noch sehr gefragt. „Das Faszinierende“, sagt Bienert, „ist, dass man damals die Kraft hatte, den Mythos von der ‚modernen’ Stadt Berlin hervorzubringen. Zugespitzt kann man sagen: Das Berlin der zwanziger Jahre hat einen Mythos erschaffen, das heutige Berlin zehrt davon.“

Am unmittelbarsten kann man Glanz und Elend der zwanziger Jahre in einer Kunstform begegnen, die diese Epoche selbst hervorgebracht hat: dem Stummfilm. „Metropolis“, Fritz Langs Klassiker, erzählt vom Rausch der Moderne und übersetzt den Kontrast zwischen Arm und Reich in einprägsame Bilder. Stephan von Bothmer und Thomas Graichen verbindet die Liebe zu diesen Filmen. Pianist Bothmer hat seit 1998 unzählige Stummfilmkonzerte gegeben. Graichen hat sich zum Ziel gesetzt, die Atmosphäre dieser Abende fotografisch einzufangen. Rund 10.000 Besucher kamen bislang zu den Konzerten, genug für Bothmer, um seinen Lebensunterhalt damit zu verdienen.

Den Zuspruch erklärt er mit der speziellen Form des Stummfilms. „Es ist ein Gemeinschaftserlebnis, außerdem ist jeder Abend neu. Ich improvisiere zu den Filmen. Wenn ich Metropolis begleite, lasse ich mich jedes Mal neu inspirieren.“ Dabei greift er nicht einmal Musik aus den zwanziger Jahren auf. Schon in der Weimarer Republik spielten Kinoorchester zu jedem Film eine eigene Musik, die sich von der anderer Kinos unterschied. Auf Graichens Fotos verschwinden durch Langzeitbelichtung die Bilder des gezeigten Films. So erscheint auf ihnen eine strahlend leuchtende Leinwand, die den Kinosaal mit der Magie des Stummfilms ausfüllt. Sie ist auch Jahrzehnte später ungebrochen.

In einem Nebenraum der Bohème Sauvage steht derweil die Luft vor Tabakqualm. Gentlemen und Gauner spielen Roulette und Poker, wetten mit Einsätzen von einer, zwei oder fünf Millionen Reichsmark. Aus dem Hintergrund ertönt Zarah Leander: „Davon geht die Welt nicht unter“. Es wäre schön, wenn sie diesmal recht behält.

Die Stummfilm-Foto-Ausstellung „An der Grenze des Lichts“ läuft bis zum 28. 11., Vernissage heute 18 Uhr; nächstes Stummfilmkonzert: „Der Mann mit der Kamera“, 18. 11., 20 Uhr, beides im Babylon Mitte. Die nächste Bohème Sauvage-Party findet am 29. 11. im Oxymoron statt, Informationen: www.boheme-sauvage.de. Das neue Programm des Trios Ohrenschmalz „Es geht vOHRwärts“ hat am 6. 12. im Admiralspalast Premiere.

Armin Leidinger

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